„Klasse“ im Titel
Erschienen in Z 128
Julia Friedichs: Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. Berlin Verlag, Berlin/München, 2021, 320 Seiten, 22 Euro
Maria Barankow / Christian Baron: Klasse und Kampf. Claassen Verlag, Berlin, 2021, 224 Seiten, 20 Euro
Der Wandel ist offensichtlich: Nach langen Jahren der Abstinenz wird der Klassenbegriff im wissenschaftlichen wie im politischen Diskurs wieder selbstverständlich verwendet. Es ist noch nicht lange her, da fiel es noch auf, wenn ein Redner auf einem Soziologentag über Deutschland als Klassengesellschaft sprach.[1] Und noch 2010 wurde ein Entwurf des Grundsatzprogramms der Partei DIE LINKE vorgestellt, in dem sich der Begriff „Klasse“ nur an drei Stellen fand.[2]
Allerdings wird in der Regel nicht der marxistische Klassenbegriff verwendet, oftmals handelt es sich um „Klassenanalyse light“[3]: Von „Klassen“ wird mit Bezug auf berufliche Positionen[4] oder gar nur auf unterschiedliche Einkommen gesprochen. Doch immerhin redet man wieder von Klassen, Klassenkonflikten und hin und wieder sogar von Ausbeutung, die mehr meint als moralische Empörung über skandalös geringe Löhne oder unerträglich schlechte Arbeitsbedingungen.
Dieses auch in dieser Zeitschrift festgestellte „wieder auflebende Interesse an Klassenanalyse, Klassentheorie und Klassenpolitik“[5] bringt Verlage dazu, Bücher auf den Markt zu bringen, die „Klasse“ im Titel tragen. So erschienen im März dieses Jahres gleich zwei für die Debatte vielversprechende Titel: Julia Friedichs „Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“ und der von Maria Barankow und Christian Baron herausgegeben Sammelband „Klasse und Kampf“.
Beide Bücher wurden überwiegend positiv aufgenommen. So lobt Tom Wohlfahrt an Friedrichs Buch das „eindrückliche Portrait einer neuen Arbeiterklasse“[6] und Johannes Schneider empfiehlt „Klasse und Kampf“, weil „das glaubhafte Bild eines ungerechten Landes“[7] gezeichnet wird.
Nach diesen verheißungsvollen Ankündigungen habe ich beide Bücher zunächst interessiert, dann zunehmend irritiert gelesen. Schließlich habe ich die beiden Bücher ein zweites Mal gelesen, dieses Mal gezielt unter dem Blickwinkel, ob die Autor*innen ihren Buchtiteln gerecht werden, also ob und ggfls. wie sie über Klassen (und Klassenkämpfe) schreiben.
Zwar handelt es sich um keine wissenschaftlichen, theoretischen Texte, aber ein Mindestmaß an begrifflicher Stringenz darf man dennoch erwarten, zumal bei der Verwendung der selbstgewählten Schlüsselbegriffe auf den Buchtiteln.
Working Class: Wenn der Aufstieg trotz harter Arbeit nicht glückt
Das Buch der 1979 geborenen deutschen Journalistin und Autorin Julia Friedichs besteht aus zwei miteinander verwobenen Teilen: In dem einen lernen wir drei Menschen kennen, die Friedrichs wiederholt für längere Gespräch getroffen hat: Alexandra, Said und Christian. Friedrichs hat auch zahlreiche Gespräche mit Politiker*innen, Regierungsmitarbeiter*innen und Wissenschaftler*innen geführt, zudem hat sie zahlreiche Bücher gelesen. Ihre hier gewonnen Erkenntnisse präsentiert sie in dem anderen Teil des Buches.
Alexandra und ihr Mann Richard arbeiten als selbständige Musiklehrer*innen überwiegend auf Honorarbasis, sie sind „zwei hochaktive Ich-AGs“ (F, 22). Bisher glaubten beide an „das deutsche Aufstiegsversprechen“ (F, 65): Dass, wer hart arbeitet, es einmal besser haben wird. Seit dem Beginn der Corona-Pandemie haben sie Existenzangst. Ihr Leben ist von dem Gefühl der Unsicherheit bestimmt. Said arbeitet als Reinigungskraft bei einem von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) beauftragten Unternehmen. Zu Beginn der Corona-Pandemie wurde er für kurze Zeit zum Helden gekürt, beklatscht und gefeiert. An seiner prekären Lage hat sich aber letztlich nichts geändert. Christian ist gelernter Konditor, zuletzt ist er als Angestellter in der Marktforschung tätig gewesen. Obwohl immer pflichtbewusst und verlässlich, beklagt er mangelnde Wertschätzung durch seine Vorgesetzte. Das ist auch Grund, warum er einen Auflösungsvertrag unterzeichnet hat.
Auf den ersten Blick überrascht die Auswahl der Gesprächspartner*innen, will Friedrichs doch die Geschichte „der ungehörten Hälfte“ (F, 17) der Gesellschaft erzählen. Was haben eine prekär beschäftigte Akademikerin, ein gering bezahlter Angestellter einer Reinigungsfirma und ein Angestellter, der zeitweise Leitungsfunktionen wahrgenommen hat, gemeinsam? Friedrichs gelingt es, in einfühlsamer Weise nachvollziehbar zu machen, dass alle drei dachten, „dass Arbeit sie durchs Leben trägt“ (F, 17), dass sie das Gefühl haben, „ihnen ist ein wirklicher wirtschaftlicher Aufstieg, eine sichere Laufbahn trotz harter Arbeit nicht geglückt“ (F, 266). Dieser Teil des Buches ist empathisch, aufschlussreich und interessant zu lesen. Die Lebenssituation und die Schwierigkeiten, mit denen Alexandra, Said und Christian tagtäglich zu kämpfen haben, gehen nahe.
Der andere Teil hingegen, in dem Friedrichs versucht, die Gesellschaft zu beschreiben und Veränderungsvorschläge macht, ist unausgegoren und oberflächlich. Es fängt bei Friedrichs Unentschiedenheit und Nachlässigkeit bei der Verwendung des Begriffs „Arbeiter“ bzw. „Arbeiterklasse“ an. Zwar müsste man die Menschen, die sie mehr als ein Jahr lang wieder und wieder traf, „‘Arbeiter‘ nennen“ (F, 12), aber weil der Begriff so „verbraucht“ (F, 12) ist, entlehnt sie – wenig überzeugend – den englischen Begriff „working class“. Bei ihrer Definition der Arbeiter als Menschen, die „auf den Ertrag ihrer Hände, ihrer Köpfe Arbeit“ (F, 13) angewiesen sind, klingt ein Bezug auf die Eigentumsverhältnisse an. Dieser Bezug wird dann von ihr aber nicht weiterverfolgt. Stattdessen folgt ein begriffliches Durcheinander von Klassen, Vermögensschichten, Einkommensgruppen und Einordnungen anhand der beruflichen Qualifikationen.
Die Gegenseite wird von Friedrichs wahllos als oberstes Prozent der Gesellschaft, Reiche, Wohlhabende, Vermögende oder Gutverdienende bezeichnet. Gegen deren Widerstand hatte die organisierte Arbeiterklasse den Kapitalismus zumindest einige Jahrzehnte „gezähmt“ (F, 88). Das erwähnt Friedrichs nicht. Stattdessen hat – laut Friederichs – ein dubioses „man“ dafür gesorgt, „dass Kapital und Arbeit im Gleichklang pumpten“ (F, 68 f.). Kollektive Arbeitskämpfe und organisierte politische Gegenwehr kommen bei Friedrichs allenfalls am Rande vor. Und so bleibt ihr dann auch nur der bloße Appell an „die im Heißluftballon“ – sie könnten vielleicht „Mieten senken, Sonderabgaben akzeptieren, mit niedrigerer Rendite leben“ (F, 304); und an „die, deren Löhne und Einkommen in den letzten Jahren extrem gestiegen sind“ – sie könnten sich „in Tarifrunden und Gehaltsverhandlungen bescheiden.“ (F, 304) Eine unfassbar naive Auffassung.
Ein großes Thema ist für Friedrichs die Rentenpolitik. Die Seiten, auf denen sie sich mit diesem Thema auseinandersetzt, fußen mehr auf anekdotischer Evidenz, denn auf fundierter Sachkenntnis. Ihre von Sven Kuntze[8] übernommene Behauptung, der entscheidende Beitrag zur Rente sei die Geburtenrate (vgl. F, 179), ist schlicht falsch. Sie verwendet kein Wort auf den für die Alterssicherung aufgewandten Anteil des Bruttoinlandsprodukts, auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität und das durchschnittliche Wirtschaftswachstum – alles notwendige Kennziffern für die Finanzierbarkeit der Rente. Kurzum: Friedrichs verkennt, dass auch in der Rentenpolitik die wesentliche Grenze in der Gesellschaft nicht „zwischen den Generationen“ (F, 192) verläuft, sondern zwischen Unten und Oben.[9] Ein Missverständnis, das symptomatisch für das ganze Buch ist.
Klasse und Kampf: Klassenreisen
In dem Sammelband „Klasse und Kampf“ haben die 1987 geborene Lektorin Maria Barankow und der 1985 geborenen Autor Christian Baron 14 Texte zusammengestellt. Sie beschreiben aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Erzählweisen das Aufwachsen und Leben am unteren Rand der Gesellschaft. Sie sind interessant, teils amüsant, regen zum Nachdenken an. Sie machen – wie von Barankow und Baron angekündigt – „Missstände greifbar“ und sprechen „eine Einladung zur Empathie aus“. (Barankow / Baron, in: B/B, 10).
Aber es trifft nicht zu, dass „die hier versammelten Stimmen … so vielfältig wie unsere Gesellschaft [sind].“ (Barankow / Baron, in: B/B, 10) Die Autor*innen sind Journalist*innen, Schriftsteller*innen, Regisseur*innen und Dramaturg*innen – trotz geschlechtlicher Differenzierung und dem Migrationshintergrund einzelner Autor*innen: gesellschaftliche Vielfalt sieht anders aus. Sie haben zudem allesamt trotz schwieriger Umstände „den sogenannten Aufstieg geschafft“ (Fricke, in: B/B, 32), haben eine „Klassenreise“ (Seeck, in: B/B, 70) hinter sich, sind ihrem Herkunftsmilieu entkommen. Einige Beiträge reflektieren diese widersprüchliche Situation. So stellt Lucy Fricke nüchtern fest, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, sie um einen Text für den Sammelband zu bitten, hätte sie sich nicht „weit von ihrer früheren Welt … entfernt“. (Fricke, in: B/B, 32)
Anders als von Barankow / Baron ankündigt, setzen sich die Texte nicht mit den Klassenstrukturen auseinander (Barankow / Baron, in: B/B, 10), noch gar sprechen die Autor*innen davon, sie „überwinden“ zu wollen (Barankow / Baron, in: B/B, 10). Es sei denn, ein individuelles „Aufbegehren“ (Fricke, in: B/B, 34) würde bereits als solches angesehen. Einzig Pinar Karabulut möchte „die Spielregeln ändern“ (Karabulut, in: B/B, 95); und Schorsch Kamerun fragt immerhin danach, ob sich in einer Gesellschaft, in der es „klassische Klasse … nicht mehr gibt“ (Kamerun, in: B/B, 193), „noch gemeinsam kämpfen“ lässt. (Kamerun, in: B/B, 190).
Der Titel des Sammelbandes ist also ein veritabler Etikettenschwindel.
- Vgl. Karl-Siegbert Rehberg: Die unsichtbare Klassengesellschaft, Eröffnungsrede zum 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 2004. ↑
- Vgl. Hans Günter Bell: Klassengesellschaft ohne Klasse, in: Z 85, S. 79-88. ↑
- Nicole Mayer-Ahuja: Klasse – Vom Elefant im Raum zum Schlüssel politischer Mobilisierung?, in: Z. 116, S. 16. ↑
- Vgl. hierzu beispielhaft: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Datenreport 2021, Bonn, 2021, S. 305 ff. ↑
- Vgl. Editorial, Z. 116, S. 5. ↑
- Tom Wohlfahrt: Etwas reißt; in: freitag, 14/2021, https://digital.freitag.de/1421/etwas-reisst/. ↑
- Johannes Schneider: Es gibt kein Entrinnen; in: ZEIT, 1.4.2021. ↑
- Sven Kuntze: Schamlose Generation, C. Bertelsmann Verlag, 2014. ↑
- Vielen Dank an Matthias W. Birkwald, rentenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag, für seinen Kommentar zu den rentenpolitischen Ausführungen von Julia Friedrichs, auf die ich mich hier stütze. ↑