Angela Klein
in: SoZ 12/09 – 01/10, S. 20
Doktorarbeiten im Bereich der Sozialwissenschaften sind etwas Ödes geworden. Sie müssen methodischen Kriterien gehorchen, die einer gedanklichen Durchdringung des Stoffs wegen der geforderten, scheinbar “objektiven” Ermittlungstechniken und der Art der Darlegung ihrer Resultate im Wege stehen; leider werden die geforderten Methoden im Rahmen solcher Arbeiten auch nicht von Grund auf in Frage gestellt. Das hat schon manche Dissertation über interessante Themen verhunzt.
Nicht so bei Günter Bell. Er rettet sich, weil er seinen eigenen Standpunkt und den marxistischen Bezugsrahmen, in dem er steht, von Anfang an klar benennt und nicht hinter einem scheinbar objektiven Wissenschaftsstandpunkt versteckt.
Gegenstand der Untersuchung ist der Kölner Stadtteil Kalk im Rechtsrheinischen, Mitte des 19.Jahrhunderts noch ein Flecken mit wenigen Höfen, bis Ende des Jahrhunderts rasant zur Industriestadt aufgestiegen; 1881 erhält Kalk die Stadtrechte. Eisen, Stahl, Maschinenbau, später auch die chemische Industrie, prägen bis in die 70er Jahre den Stadtteil, der nach dem Rhythmus dieser Industrien lebt. Zwischen 1978 und 2005 werden die nach dem Krieg verbliebenen Werke (Kalk wurde zu 83% zerstört) samt und sonders dicht gemacht. Bell zeichnet den Wandel des Stadtteils von einer deutsch geprägten Facharbeiterschaft zu einem Ort nach, der nur noch Wenigen Arbeit bietet, zu 40% von Ausländern bewohnt ist und offiziell fast 23% Arbeitslose hat.
Bell geht der Frage nach, wie sich in einem solchen Stadtteil Klassenbewusstsein entwickelt, wie es sich verändert durch veränderte Arbeits- und Lebensbedingungen und durch den Zustrom unterschiedlicher Nationalitäten, und ob überhaupt noch etwas davon übrig bleibt, jetzt wo die Betriebe fort sind. Die Interviews, die er führt, stellen alle die Veränderungen durch den hohen Ausländeranteil in den Vordergrund; die Frage, ob die dadurch bewirkte Spaltung in der Arbeiterschaft überwunden werden kann, ist für seine Leitfrage zentral, wenngleich sie nicht beantwortet wird.
In einem vorgeschalteten allgemeinen Teil setzt Bell sich mit verschiedenen Theorien zum Klassenbewusstsein auseinander und erklärt, weshalb er Bourdieus Begriff des “sozial-räumlichen Milieus” für am besten geeignet hält. Räume, in denen es gemeinsames Erleben und miteinander Leben gibt, können Klassenbewußtsein ausbilden, das gilt nicht nur für Betriebe, sondern auch für Wohnquartiere.
Wenn man dieses Konzept auf die aktuelle Situation im Stadtteil anwendet, müsste man die migrantische Bevölkerung zum Ausgangspunkt einer Studie darüber nehmen, wie sich Zusammenhalt und Klassenbewußtsein unter den geänderten Bedingungen darstellen. Leider bleibt das Buch davor stehen und konstatiert, dass es auch in Kalk die “Arbeiterklasse als reale, mobilisierte Klasse” nicht mehr gibt. Die eingangs von Bell gestellte Frage nach ihrer möglichen Neuformierung bleibt unbeantwortet, obwohl diese Klärung eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche politische Intervention im Stadtteil ist. Aber das ist sicher den Zwängen einer Dissertation zum Opfer gefallen.