Rezension von Ulla Lessmann

Rezension von Ulla Lessmann

in: ver.di News, Ausgabe 13/2009 (19.09.2009)

Der Buchtipp

Klassengesellschaft ohne Klassen?

Studien in einem traditionellen Arbeiterstadtteil

Am Anfang, schreibt der Stadtplaner und Sozialwissenschaftler Günter Bell, “stand das Staunen über die Menschen, die wirtschaftliche und politische Entscheidungen scheinbar widerstandslos hinnehmen, die ihre eigene Lebenslage verschlechtern, während gleichzeitig der Reichtum in der eigenen Gesellschaft wächst und die Reichen und Mächtigen diese Entwicklung als alternativlos darstellen”. Bell, Sprecher der Partei “Die Linke” in Köln, will in seiner Doktorarbeit den Gründen für diese Lethargie auf die Spur kommen. Er hat dafür seinen Geburtsort, den Kölner Stadtteil Kalk, gewählt.

Kalk war der bedeutendste Indus-triestandort Kölns, inzwischen ist er von Arbeitslosigkeit, hohem Ausländeranteil und Armut geprägt, im Bürokratendeutsch ein Stadtteil “mit besonderem Hilfebedarf”. Bell fragt, ob sich Menschen, die ihre Arbeit verloren haben oder in prekären Verhältnissen arbeiten, in einer neuen solidarischen Arbeiterklasse wiederfinden, ob traditionelle Strukturen in Nachbarschaften, Gewerkschaften, Vereinen und Parteien noch Solidarität und Widerstand begünstigen. In Interviews mit auch gewerkschaftlich engagierten Bürgern, bei Gruppendiskussionen etwa mit der Geschichtswerkstatt und teilnehmenden Beobachtungen auf Stadtteil-, Partei- und Nachbarschaftsfesten oder Karnevalsumzügen hat der Autor das Arbeits- und Alltagsleben der Bewohner und auch ihre Erfahrungen bei den Kämpfen um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze erkundet.

Ein Fazit: Die Menschen empfinden sich durchaus als benachteiligten Teil einer so auch benannten Klassengesellschaft, sie haben ein “Klassenbewusstsein”, ohne dass daraus aber eine spezifische Klassensolidarität, geschweige denn gemeinsamer Widerstand erwächst. Vielmehr ist “das politische Klima ganz allgemein von Lethargie und Hoffnungslosigkeit geprägt”. Gründe dafür sind neben Armut und Arbeitslosigkeit, dass die Zusammengehörigkeit stiftenden Arbeiterwohnquartiere verschwinden, gewerkschaftliche und parteipolitische (überwiegend sozialdemokratische) Bindungen sich zunehmend auflösen, dass sich das Freizeitverhalten individualisiert.

Der Arbeiterstadtteil als Nährboden für Klassenbewusstsein und -solidarität ist wohl Vergangenheit – auch wenn es erstaunlicherweise immer mal gelingt, gegen Neonazis zu mobilisieren. Bell sieht indes “weder ein Anzeichen für eine Wiederauferstehung der alten, durch die Facharbeiter der Groß- und Mittelbetriebe geprägten Arbeiterklasse noch für eine von anderen Klassenfraktionen getragene mobilisierte Klasse”. Es gibt, so Bell, “viel individuelle Empörung und viele Parallelwelten, die trotz ihrer Probleme nicht zu einer gemeinsamen öffentlichen Artikulation und Handlungsperspektive finden”.

Die Ergebnisse der mit Fotos illustrierten Studie lesen sich gut und sind für Gewerkschafter eine erkenntnisbringende Lektüre, sie könnten Anstoß für ähnliche Forschungen in anderen Orten sein.

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