Ben Diettrich: Klassenbewusstsein
n: Z. – Zeitschrift marxistische Erneuerung, Heft 80 (Ausgabe Dezember 2009), S. 198-200
Günter Bell hat mit einer sozial-räumlichen Analyse des ArbeiterInnenstadtteils Köln-Kalk seine Dissertation an der Universität Dortmund, Fakultät Raumplanung/Prof. Hans Blotevogel, vorgelegt. Im Kern geht es um eine qualitative empirische Untersuchung entlang klassentheoretischer Annahmen. In den letzten drei Jahrzehnten wurden im deutschsprachigen Raum kaum mehr als eine Handvoll empirischer Klassenuntersuchungen durchgeführt (vgl. S. 50). Nur Milieu- und Lebensstilstudien besitzen im soziologischen Mainstream eine gewisse Relevanz, u.a. weil diese für Produktvermarktung und Wähleranalysen verwertet werden können. Die wenigen Klassenanalysen, die zu akademischen Ehren gelangen, nehmen häufig in sozialwissenschaftlichen Nischen ihren Ausgangspunkt. In diesem Fall ist es die Raumplanung. Denn in der Geographie werden noch vermehrt kritische Diskussionen geführt. Als Zweitgutachter wirkte statt eines Soziologen der renommierte Politologe Frank Deppe mit. Im Gegensatz zum angelsächsischen Raum gibt es in Deutschland kaum noch Lehrstühle, die ein Grundverständnis für Klassenanalysen besitzen. Insofern ist es schon an sich zu begrüßen, dass Bell zur Klärung beiträgt, inwieweit Klassenstrukturen heute noch oder wieder einen handlungsbezogenen Gehalt haben.
Bell lässt sich von der Frage leiten, ob die wachsende Schere zwischen arm und reich zu einer Formierung der ArbeiterInnenklasse führt und welche Relevanz dafür die räumlichen Faktoren eines Arbeiterstadtteils haben können. Zunächst rekapituliert er die klassentheoretischen Ansätze von Marx, Thompson und Wright, um diese auch auf Geschlecht und Ethnie zu beziehen. In einem zweiten Schritt beschäftigt er sich mit den Formen des Klassenhandelns (durch Arbeitskämpfe, Demonstrationen, der Tätigkeit in Gewerkschaften und Parteien) und der Entwicklung kollektiver Lernprozesse. Im folgenden Abschnitt rekapituliert Bell die Auswirkungen räumlicher Konzentration auf die ArbeiterInnenklasse, bis hin zu den gegenwärtigen sozial-räumlichen Milieukonzepten. Zur Analyse der ArbeiterInnenklasse schlägt der Autor einen multiperspektivischen Ansatz vor, nach dem in einer enger werdenden Spirale die Sektoren Klassenstruktur, -bewusstsein und -handeln wiederkehrend auf die Klassensubjekte einwirken (S. 75). Bell wählt auf Grundlage qualitativer Methoden zwölf problemzentrierte Interviews (darunter fünf Frauen und vier türkischstämmige Deutsche, fast alle gewerkschaftlich oder in linken Parteien aktiv), zwei Gruppendiskussionen (insb. mit VertreterInnen einer Geschichtswerkstatt) und fünfzehn teilnehmende Beobachtungen an Infoständen, Nachbarschaftsfesten, Sport- und Karnevalsveranstaltungen.
In der ausführlichen Darstellung seiner Ergebnisse kommt Bell zu folgenden Schlüssen (S. 108-174): Die Untersuchten fühlen sich gesellschaftlich benachteiligt und als Lohnabhängige prekär. Es existiert eine Spaltung zwischen der deutschen Bevölkerung und MigrantInnen. Die Befragten verfügen zwar häufig über Demonstrations-, jedoch kaum über Streikerfahrungen. Die Identitätsbildung fußt auf Lohnarbeit oder politischer Organisierung. Im Mittelpunkt ihres sozialräumlichen Interesses steht nicht die städtebauliche Entwicklung des Stadtteils, sondern die soziale Lage der BewohnerInnen. Kritik bezieht sich auf einzelne Unternehmens- oder Regierungsentscheidungen, wird jedoch nicht grundsätzlich. Wert legen die Interviewten auf einen solidarischen Umgang. Überwiegend werden die Gewerkschaften als zu passiv und die SPD als unzureichende Interessensvertretung kritisiert. Die Gesellschaft wird von allen als Drei- (einschl. der Mittelklasse) bzw. Zweiklassengesellschaft einschließlich der Arbeitslosen gedeutet. Zwischen einer strukturanalytischen und einer handlungsorientierten Sicht auf Klassen wird nicht unterschieden. Bell zieht deshalb den Schluss, dass die alte Industriearbeiterschaft weiterhin klassenpolitisch erschöpft ist, jedoch im Block der Subalternen Bedeutung gewinnen kann. Auch ist nicht absehbar, dass die ArbeiterInnenklasse durch einen Impuls von außen einen neuen Aufschwung erlebt. Insgesamt überraschen die Ergebnisse der Studie nicht. Sie bestätigen politische Analysen von links.
Bells theoretische Grundlagen und sein methodischer Aufbau sind jedoch nicht widerspruchsfrei, dazu drei Beispiele: Er ist der Auffassung, dass häusliche Reproduktionsarbeit nicht als Klassenstrukturierungsprozess aufgefasst werden kann. In seinen Interview- und Diskussionsleitfäden verzichtet er jedoch auf entsprechend problemorientierte Fragestellungen, so dass er seine m.E. nach falsche Sicht, dass Hausarbeit nicht zu kollektiven Lebensformen und Einstellungen führt (S. 32), ungeprüft postulieren kann. Hinsichtlich der Widersprüche zwischen Männern und Frauen sowie zwischen MigrantInnen und Einheimischen sieht Bell zwar klassenfraktionelle Tendenzen, er betont jedoch, dass die überwiegenden Gemeinsamkeiten nicht aus dem Blick verloren werden dürfen (S. 38). Hier spricht der politische Aktivist Bell, der eine „Abspaltung der MigrantInnen“ verhindern will, eine strukturanalytische Bestimmung von Klassenfraktionen bleibt jedoch aus1. Bells verengter Zugang zur ArbeiterInnenklasse wird auch dadurch reproduziert, dass er die Interviewten relativ erfolglos zu Aktionen von linken Stadteilaktivisten oder Kritikern der Gentechnologie befragt (S. 156ff), diese Aktivisten selbst jedoch nicht in seine Studie einbezieht. Weitergehende Schlussfolgerungen bleiben so verwehrt. Insgesamt hat Günter Bell gleichwohl eine lesenswerte Studie erarbeitet, an die andere anknüpfen müssen, wenn sie sich heute Klassenbewusstsein und -handeln erschließen wollen.
1 Vgl. zu einem strukturanalytischen Forschungsansatz: Ben Diettrich, Klassenfragmentierung und -formierung: Die jetzigen Aufgaben, in: Über Marx hinaus, Karl Heinz Roth / Marcel van der Linden (Hrsg.), Berlin 2009, S. 495-526.