Armut als Bedrohung. Der soziale Zusammenhalt zerbricht.

Armut als Bedrohung. Der soziale Zusammenhalt zerbricht.

Ein Memorandum der Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

Erschienne in spw 127

Als „Flugschrift Kritischer Wissenschaftler“ ist aktuell im Hannoveraner Offizin-Verlag ein Memorandum der Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erschienen. Unter der Überschrift „Armut als Bedrohung. Der soziale Zusammenhalt zerbricht.“ werden die Ergebnisse zweier Tagungen aus den Jahren 2001 und 2002 vorgestellt.

Nach einer Einführung durch Oskar Negt folgt auf 85 Seiten und in drei Kapitel gegliedert das eigentliche Memorandum. Es stellt einen weiteren Versuch der 1994 gegründeten Initiative kritischer WissenschaftlerInnen dar, „Gegenöffentlichkeit“ (1191) zu entfalten und „neuartige, die alten Bahnen der tagespolitischen Rhetorik verlasende Lösungen und Denkansätze“ (118) vorzulegen. Allein schon, weil es an solchen Ansätzen aktuell mangelt, würde sich m.E. ein Blick in das Memorandum lohnen. In diesem konkreten Fall kommt noch hinzu, dass es ein Thema aufgreift, von dem die AutorInnen leider zu Recht sagen, es sei im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik ein randständiges. Zudem bleibt ihre Argumentation und Kritik nicht im Allgemein-Wissenschaftlichen stecken, sondern sie setzen sich mit der realen Politik v.a. der rot-grünen Bundesregierung auseinander – und die schneidet dabei ziemlich schlecht ab.

Huldigung des Individuums und repressive Maßnahmen gegen Sozialhilfeempfänger als parteiübergreifendes Projekt

Im ersten Kapitel des Memorandums wird zunächst eine Tendenz zu einer offensiven Präsentation von Reichtum und Macht festgestellt und bedauert, dass sich die sozialen Leitbilder verschoben haben: Die Figur des „kreativen Selbständigen“ und des „hedonistischen Konsumenten“ strahlt – wohl auch bis weit in die Reihen der Sozialdemokratie – eine große Faszination aus. Demgegenüber erreicht die Armutsproblematik nur selten jene Schwelle, an der sie als Herausforderung für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit anerkannt wird.

Auch die Politik wirkt in die gleiche Richtung und konzentriert sich zudem auf den ökonomischen Standortwettbewerb: eine Tendenz, die den Sozialstaat in Frage stellt und historisch bereits erreichte Standards der sozialen Gerechtigkeit verletzt.

Die Deklassierten sind die Opfer beider Entwicklungen: Einerseits leiden sie untern den materiellen Entbehrungen in Folge von Arbeitslosigkeit und Abbau des Sozialstaates, und andererseits wird ihnen die gesellschaftliche Solidarität entzogen. Letzteres finde seinen exemplarischen Ausdruck in der bekannten zynischen Bemerkung von Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Es gibt kein Recht auf Faulheit.“ Dass es sich hierbei um ein „parteiübergreifendes Projekt“ (36) handelt, verdeutlicht der Vorstoß des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch zum Import des sog. Wisconsin-Modells, bei dem SozialhilfeempfängerInnen im Falle der Ablehnung von den Behörden als zumutbar betrachteter Arbeiten die Sozialhilfe komplett gestrichen wird. SPD wie CDU/CSU stellen „die sozialstaatliche Tradition radikal in Frage“ (36) und unterwerfen immer größere Bereiche der Sozialpolitik der Logik der Vermarktlichung und dem Prinzip der individuellen Vorsorge – so die zusammenfassende Kritik des Memorandums. Die Huldigung des Individuums und repressive Maßnahmen gegen Sozialhilfeempfänger gehen bei ihnen Hand in Hand.

Als Folge von Verunsicherungen und einem wachsenden Unbehagen, die „die tiefgreifenden Kommerzialisierungsschübe in praktisch allen Lebensbereichen auslösen“ (37), keimt zwar ein erster Hoffnungsschimmer hinsichtlich des Wiedererwachens einer gesellschaftskritischen Bewegung auf, zumal die Angst vor dem sozialen Abstieg auch die „Globalisierungsgewinner“ erreicht zu haben scheint, aber noch überwiegt die Skepsis.

Doch mit der ernüchternden Feststellung: „Die Armen haben keine wirksame Lobby“ (44), will sich die Loccumer Initiative nicht zufrieden geben. Sie will einen Beitrag zu einer Neubesinnung auf die Werte einer solidarischen Gesellschaft leisten und mit ihrem Memorandum eine Diskussion über die Wirklichkeit von Armut in einem reichen Land in Gang setzen.

Armut hat viele Gesichter

Die vielen Gesichter der Armut und die Dimensionen des Reichtums zu beschreiben ist Aufgabe des zweiten Kapitels. Allerdings kranken alle statistischen Aussagen zur Armut an der unzureichenden Datenbasis. Ganz allgemein läßt sich jedoch festhalten – so die Zusammenfassung im Memorandum –, dass die erschreckend große Zahl von etwa acht Millionen Menschen in Deutschland in Armut lebt und der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung wächst.

Ist die Datenlage zur Armut schon unzureichend, so wird sie beim Reichtum vollends unbrauchbar. So unterschätzen die gängigen Statistiken systematisch v.a. die hohen Einkommen. Die Kritik des Memorandums an der Bundesregierung, dass diese den Gehalt ihres Armuts- und Reichtumsberichts angesicht der Mängel der Datenlage noch durch zusätzliche, mutwillige Lücken – z.B. durch das Verschweigen der die Reichen begünstigenden Steuerpolitik – verringert hat, ist daher m.E. voll und ganz zuzustimmen.

Die soziale Schieflage der Einkommen wird von der Vermögensverteilung noch übertroffen: Schulden von durchschnittlich 5.368 € bei den unteren 10% der Haushalte steht ein Durchschnittsvermögen von 562.000 € bei den oberen 10% der Haushalte gegenüber. Dabei bleibt bei diesen Angaben sogar noch das Produktivvermögen ausgeblendet, und das Immobilienvermögen wird zu niedrig angesetzt. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung setzt – so der Vorwurf der Loccumer Initiative – das Vermögen der privaten Haushalte also wesentlich niedriger an, als es tatsächlich ist.

Ein Skandal besonderer Qualität liegt in der Tatsache, dass die Reichen zu denjenigen gehören, die besonders wenig Steuern zahlen. – eine Absonderlichkeit des Steuerrechts, die von der rot-grünen Bundesregierung noch weiter verschärft worden ist, statt durch staatliche Abschöpfung von Verteilungsspielräumen die Mittel zur Finanzierung einer wirksamen Politik gegen Armut zu gewinnen. Die im Memorandum aufgezählten Vergünstigungen für die Reichen ergeben eine erstaunliche Liste (80 ff.). Hervorzuheben ist v.a. die Senkung des Spitzensteuersatzes von 53% in 1999 auf 42% in 2005, die Senkung des Eingangssteuersatzes von 25,9% auf 15% und die Anhebung des steuerfreien Existenzminimums. Auf den ersten Blick wirken die beiden zuletzt genannten Punkte als soziale Maßnahmen ausschließlich zugunsten der unteren Einkommen. Das Bild ist allerdings erst dann vollständig, wenn man sich vor Augen hält, dass auch die Reichen hiervon profitieren, und zwar in weitaus stärkerem Ausmaß als die Armen. Das Memorandum zitiert zum Beleg aus einem Bericht des „Vorwärts“ (Ausgabe September 2000), in dem vorgerechnet wird, dass die Entlastung aufgrund der rot-grünen Steuerreformen mit der Höhe der Einkommen steigt und die reichsten Haushalte um ein Vielfaches mehr von dieser Reform profitieren als die ärmsten. Angesichts solcher Zahlen kann es wohl niemanden wundern, dass eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zu dem Ergebnis kommt, dass die Menschen v.a. die Unternehmer und die Reichen als Nutznießer der rot-grünen Politik ansehen. (vgl. FAZ vom 10. Juli 2002)

Eine systematische und konsequente Politik der Regierung gegen die Armut fehlt

Das Ergebnis dieser Ausführungen fasst das Memorandum in der Feststellung zusammen, dass „eine systematische und konsequente Politik der Regierung gegen die Armut [bisher] fehlt“ (87). Der dritte Abschnitt des Memorandums widmet sich daher den Bestandteilen einer wirksamen Politik gegen Armut.

Der Schwerpunkt einer Politik der Armutsbekämpfung muss nach Einschätzung der Loccumer Initiative bei der Erhaltung und Verbesserung der Funktionsfähigkeit der Sozialhilfe liegen. Konkret heißt dies, dass weitere rechtliche Änderungen, die zu einer Schlechterstellung der SozialhilfeempfängerInnen führen würden, unterbleiben und bereits erfolgte Absenkungen des Sozialhilfeniveaus wieder rückgängig gemacht werden sollten.

Diese defensive Forderung muss man vor dem Hintergrund der sowohl von SPD als auch von CDU/CSU geplanten Reform der Sozialhilfe sehen, von der die AutorInnen des Memorandums vor allem eins erwarten: eine weitere Verschlechterung der Lebenssituation der SozialhilfeempfängerInnen.

Ein zentraler Grundsatz der Politik gegen Armut lautet, dass allen Erwerbsfähigen die Möglichkeit gegeben werden muss, ihren Lebensunterhalt und ihre soziale Sicherheit gegenüber den großen Lebensrisiken zu menschenwürdigen Bedingungen erarbeiten zu können. Für alle Fälle, in denen das nicht gelingt, müssen andere Formen der Existenzsicherung garantiert werden.

Zur Ereichung dieser Grundsätze tritt das Memorandum daher für eine „aktive Arbeitspolitik“ (88) und eine Grundsicherung ein. Es stellt allerdings unmissverständlich klar, dass das „Gesetz über eine bedarfsorienierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“, welches die aufstockende Sozialhilfeauszahlung bei Renten unter Sozialhilfeniveau direkt innerhalb der GRV beinhaltet, keine Absicherung oberhalb der Armutsgrenze sicher stellt. Ebenso kritisch fällt auch die Stellungnahme zur parteiübergreifend propagierten „Zusammenlegung“ von Sozial- und Arbeitslosenhilfe aus. Diesem Vorhaben wird –zu Recht – unterstellt, dass es auf eine faktische Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und eine Überführung der ArbeitslosenhilfebezieherInnen in die Sozialhilfe hinauslaufen wird. Für die betroffenen Arbeitslosen hätte dies zur Folge, dass sie weniger Geld erhalten und zur Arbeitsaufnahme unter die schärferen Zumutbarkeitskriterien der Sozialhilfe gezwungen werden.

Als weitere Beispiele der Politik gegen Armut sieht das Memorandum das Programm „Soziale Stadt“, mit dem von Seiten des Bundes und der Länder der Versuch unternommen wird, die Lage in benachteiligten Stadtteilen zu verbessern, und Fördermaßnahmen im Bildungsbereich und bei der Kinderbetreuung an. Das zwar unzeitgemäße, aber nichtsdestotrotz richtige Plädoyer für die Gesamtschule und die Kritik an dem unzureichenden Ausbildungsniveau der ErzieherInnen in Kindergärten finden hier meine besondere Zustimmung.

Viele der im Memorandum zusammengestellten Forderungen kosten natürlich Geld, viel Geld, und das will erst einmal beschafft werden. Richtigerweise plädiert das Memorandum daher für die konsequente Bekämpfung der Steuerhinterziehung, die Wiedereinführung der Vermögensteuer, das Schließen von Steuerschlupflöchern und weitere sinnvolle Maßnahmen. In der Summe würde dies einen Richtungswechsel in der Steuerpolitik zur Folge haben und dürfte auf die bekannten Widerstände stoßen. Wenn man es sich also ohnehin schon mit den „Neo-Liberalen“ und der „neuen Sozialdemokratie“ verscherzt, dann hätte man m.E. auch noch die Forderung nach einer Wiederanhebung des Spitzensteuersatzes aufnehmen sollen. Dies würde sich jedenfalls aus der an der rot-grünen Steuerpolitik geübten Kritik konsequenterweise ergeben.

Der letzte Punkt widmet sich schließlich den „Wegen zur konkreten Solidarität“ (107 ff.). Eine „basisdemokratische, oppositionelle Bewegung gegen Armut und Ausgrenzung“ (107) als Ziel vor Augen, plädiert das Memorandum für die Verbindung von systemüberwindender Zukunftsperspektive mit den Kämpfen zur Verteidigung der noch vorhandenen wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme und der linkskeynesianischen Steuerungsinstrumente. Dies erfordert, sich von allen Programmen und Praktiken „einer Kombination von polizeistaatlicher Kontrolle und autoritärer Umerziehung der ‚Armen’“ (108) abzugrenzen und die solidarische Verbindung mit Unterstützer-Organisationen für Arme und Ausgegrenzte zu suchen.

Und immer wieder das „Lied vom Teilen“

Angesichts der Bedeutung, die Negt in seiner Einleitung der Arbeit als Basis des Reichtums sowohl der Gesellschaft als auch der Subjekte beimisst, und seines eindringlichen Hinweises auf die verheerenden Folgen der Arbeitslosigkeit verwundert der geringe Raum, den eine Politik für mehr Arbeit und Beschäftigung in dem Memorandum einnimmt. Auch die gleichmäßigere Verteilung der Primäreinkommen als eine der entscheidenden Voraussetzungen zur Verringerung von Armut findet nur geringe Beachtung. Stattdessen plädiert die Loccumer Initiative für „Formen beschäftigungssichernder Arbeitszeitverkürzung“ (88) und schreckt leider nicht davor zurück, Einkommenseinbußen für die unteren und mittleren Einkommen billigend in Kauf zu nehmen.2 Es folgt ein Loblied auf verschiedene Modelle, Beschäftigung durch Lohnverzicht zu schaffen, und die Forderung, „Fehlsteuerung an der Sozialhilfeschwelle“ (89) u.a. durch staatliche Zuschüsse zu den Sozialversicherungsbeiträgen Geringverdienender abzubauen.

Viele dieser Vorschläge kennt man allerdings bereits aus der lafontaineschen Diskussion Ende der 1980er Jahre, als er laut das „Lied vom Teilen“ gesungen und den „Sozialismus in einer Klasse“ propagiert hatte. Keines der damals für diese Konzepte vorgetragenen Argumente ist im Laufe der Jahre richtig geworden. Um so bedauerlicher ist es also, dass dieser auf Umverteilung zwischen Lohnabhängigen beschränkte Ansatz in diesem Memorandum wieder aufgegriffen worden ist.

Das es auch anders geht, zeigen andere in den letzten Wochen vorgelegte Konzepte: So hat die „Initiative für einen Politikwechsel“ einen Aufruf „1 Million Arbeitsplätze durch öffentliche Daseinsvorsorge, Zukunftsinvestitionen, Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung“ initiiert, und auch das Positionspapier der „Initiative für eine sozialstaatlich orientierte Arbeitsmarktpolitik“ setzt hier andere Akzente.

Solche Schwächen tun dem Verdienst der Loccumer Initiative allerdings keinen Abbruch, die mit diesem Memorandum einen bemerkenswerten Beitrag zur Schaffung breiter gesellschaftlicher Allianzen leistet und den Kampf auf dem „intellektuellen Feld“ (Pierre Bourdieu) führt. Als Aufruf an „diejenigen, für die die solidarische und demokratische Entwicklung der Gesellschaft eine Notwendigkeit darstellt und die auch bereit sind, ihren Beitrag für ein soziales und demokratisches Gemeinwesen zu leisten“ (29), sollte es jedenfalls eine möglichst große Verbreitung finden.

Kontakt zur Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler:

Gregor Kritidis, Davenstedter Straße 23, 30449 Hannover

Tel: 0511-2133062

E-Mail: loccumer.initiative@gmx.de

Internetseite: http://www.gfp-linkloc.de

1 Alle Seitenabgaben beziehen sich auf das besprochene Buch.

2 Sie sollen ausdrücklich bloß „minimiert“ (88), also nicht verhindert werden.

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