Lebenslagen in Deutschland

Lebenslagen in Deutschland

Armut, Reichtum und die Zukunft des Sozialstaates

Von Hans Günter Bell, Daniel Kreutz und Alexander Recht

Erschienen in Z 41

Der Deutsche Bundestag hatte der Regierung den Auftrag gegeben, einen Armuts- und Reichtumsbericht vorzulegen. Diesen Auftrag hat sie im April 2001 mit der Vorlage des Berichts “Lebenslagen in Deutschland – Der erste Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung” umgesetzt. Dass die Regierung einen solchen Bericht vorlegt, ist ein Fortschritt gegenüber der Politik ihrer Vorgängerin, die sich stets weigerte, die Existenz von Armut in Deutschland zu akzeptieren. Trotz aller Mängel und Schwächen liegt mit diesem Bericht ein “höchst alarmierendes Dokument gesellschaftlicher Spaltung” vor – so die Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Barbara Stolterfoht –, das ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit verdient.

Die Veröffentlichung dieses Berichts fiel in die Laufzeit eines Projektes der Kölner Arbeitsgruppe “Umverteilen!” mit dem Titel “Reichtum umfairteilen!”. In dieser Arbeitsgruppe hat sich ein bunter Kreis von SozialdemokratInnen und (Ex-)Grünen, von Aktiven aus PDS und DKP sowie parteipolitisch nicht Organisierten zusammengefunden, die in Folgendem übereinstimmen: An eigenständiger politischer Initiative von unten führt kein Weg mehr vorbei, seit unübersehbar wurde, dass der Regierungswechsel von Kohl zu Schröder nicht den ersehnten Politikwechsel brachte, sondern die Fortsetzung des neoliberalen Kurses mit anderen Mitteln.

Das Thema “Umverteilen!” ist von uns nicht zufällig gewählt worden. Es ist die Wahrnehmung der aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen, die uns zu der Überzeugung führt, dass die Verteilungsfrage im Zentrum der gesellschaftlichen Zukunftsfragen steht.

In diesem Beitrag stellen wir Zwischenergebnisse dieses Projektes vor und verbinden dies mit einer kritischen Würdigung des regierungsamtlichen Armuts- und Reichtumsberichts.

Funktion, Folgen und Grenzen des Reichtums

Ist Ungleichheit funktional?

Reichtum ist bekanntlich keine Erfindung der Moderne. Die Konstanz der Arm-Reich-Polarität in der überlieferten Geschichte verleitet das Alltagsbewusstsein oft zu der irrigen Annahme, es gebe einen gleichsam naturgegebenen “Bereicherungstrieb” des Menschen. Indes zeigt der Blick auf egalitäre Gemeinschaften, die manche indigenen Völker noch heute pflegen, dass von dergleichen keinerlei Rede sein kann.

Für Klassengesellschaften ist dagegen eine ausgeprägt ungleiche Aneignung und Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts geradezu konstitutiv. Ohne Reichtum, dessen spezifische Form und Entstehung sich aus den jeweiligen Produktionsverhältnissen herleiten, ohne die Macht, die aus der persönlichen Verfügung über bedeutende materielle Ressourcen erwächst, sind Klassengesellschaften nicht denkbar. Nur insofern sind Reichtum und soziale Ungleichheit gewissermaßen “historisch notwendig”.

Der “Schutz” des Reichtums herrschender Klassen vor Plünderung von außen und Revolten von unten zählt “naturgemäß” zu den vornehmsten Aufgaben der Klassenstaaten. Auch das deutsche Grundgesetz räumt dem Schutz des Eigentums (und damit zugleich des privaten Reichtums) Verfassungsrang ein. Zwar ist der Eigentumsschutz durch die Allgemeinwohlbindung relativiert. Doch im Zweifel steht nicht der private Reichtum, sondern die sozialstaatliche Umverteilung unter Legitimationszwang und bleibt an restriktive Bedingungen geknüpft.

Das Scheitern aller Revolten und Revolutionen, die darauf abzielten, egalitäre Gesellschaften zu errichten, deutet auf die Unmöglichkeit hin, Gleichheit zu “verordnen”. Eine solche Perspektive fällt vielmehr zusammen mit dem nur in langfristigen Prozessen zu erreichenden Verschwinden der Klassengesellschaft, ihres Staates und ihrer Bewusstseinsprägungen – im globalen Rahmen, auf der Grundlage hoher Arbeitsproduktivität und mit Hilfe eines neuen, “post-materialistischen” Wohlstandsbegriffs.

Privater Reichtum als Feind der Demokratie

Demokratie darf sich nicht in der Möglichkeit erschöpfen, an Wahlen teilzunehmen, sondern muss auch einschließen, dass die Gesellschaft darüber entscheidet, was auf welche Weise produziert wird, wie das Produkt verteilt wird und wie sie ihr Leben führen möchte.

Diese umfassende Demokratisierung stößt innerhalb des kapitalistischen Systems an Grenzen: Die Verfügung über die materiellen Ressourcen der Produktion verleiht den Kapitaleigentümern die Macht, über die Art und Weise der einzelbetrieblichen Produktion zu entscheiden. Die Mehrheit der Bevölkerung ist hingegen darauf angewiesen, zu ihrer Lebenserhaltung ihre Arbeitskraft in abhängiger Beschäftigung zu verkaufen – an der Entscheidung über die Produktion wird sie nicht beteiligt, von der Aneignung des durch sie selbst produzierten Mehrprodukts wird sie ausgeschlossen.

Demokratie wird aber im Kapitalismus nicht nur durch ungleiche Verfügungsmacht über die Produktion und ungleiche Verteilung beschnitten. Problematisch sind die relative Privilegierung einer Menschengruppe und die Dominanz der Kapitallogik Erst nach der Überwindung des Kapitalismus wird es möglich sein, Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Menschen zu organisieren.

Dennoch ist es auch heute schon möglich, über sozialstaatliche Korrekturen Demokratie auszubauen. Mehr Demokratie ist nicht möglich ohne Verringerung der Konzentration des Reichtums in den Händen weniger. Weil die Entfaltung der Persönlichkeit im Rahmen individueller Lebensgestaltung ohne entsprechende materielle Ausstattung undenkbar ist, muss die funktionale Ungleichverteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums zwischen Kapital und Arbeit auf der personalen Ebene gemindert werden. Sozialleistungen, deren Finanzierung auch und gerade auf den Schultern von Vermögenden lasten muss, spielen hier eine wichtige Rolle.

Demokratisierung muss indes über die personale Ebene hinaus auch den gesellschaftlichen Raum umfassen. Ein demokratisch kontrollierter öffentlicher Sektor mit öffentlichen Unternehmen, öffentlichen Dienstleistungen und kollektiven Sicherungssystemen ist der Versuch, nicht die gesamte Gesellschaftlichkeit der privaten Kapitalverwertung zu überantworten. Er ist ein politisches Signal, dass Leben und Arbeiten möglich sind, ohne dass die Kapitallogik das bestimmende Prinzip darstellt. Dieser öffentliche Sektor ist auf gesellschaftliche Finanzierung angewiesen. Die Finanzierung öffentlicher Leistung über die Besteuerung privaten Reichtums ist notwendige Voraussetzung zur Demokratisierung der Gesellschaft.

Ökologische Grenzen des Wachstums

Die Diskussion um faires Teilen und Umverteilen steht schnell vor der Frage, ob die heutige kapitalistische Produktions- und Lebensweise Maßstab für die weitere Entwicklung – sowohl in den Metropolen selbst als auch weltweit – sein soll und kann.

Wird die von Klimaforschern und ÖkologInnen wohlbegründete Forderung akzeptiert, bis 2050 den Energie- und Stoffdurchsatz der Wirtschaft um 80-90% zu verringern, ist klar, dass eine wachstumsorientierte Politik des reichen Nordens nicht zukunftsfähig ist. Statt dessen geht es um nicht weniger als um die Überwindung der “fossilistischen Produktions- und Konsumtionsweise” (Elmar Altvater). Angesichts dessen führt kein Weg daran vorbei, die Verteilungsfrage neu zu stellen: Damit ist durch die ökologische Frage das Postulat einer Politik der Selbstbeschränkung und Selbstbegrenzung (“Gut leben statt viel haben”) aufgeworfen.1

Soll die ökologische Politik der Selbstbeschränkung die soziale Schieflage nicht zusätzlich verstärken, so stellt sich die Verteilungsfrage wesentlich zugespitzter als im alten Rahmen der Wachstumslogik. Eine Politik, die sich dem notwendigen fundamentalen Richtungswechsel stellt, erfordert eine egalitäre Politik der Umverteilung von Reichtum und Entwicklungschancen, den Umbau der Arbeitswelt und eine Politik der Einschließung, die die reale Teilhabe an Erwerbsleben und Einkommensentwicklung für alle öffnet, die dies wollen. Es geht um eine Verbindung ökologischer Nachhaltigkeit mit einer neuen Politik der Vollbeschäftigung.

Entscheidende Parameter unserer Wirtschafts- und Lebensweise müssen geändert werden, wenn es für die breite Mehrheit der Menschen eine lebenswerte Zukunft geben soll. Notwendig ist ein neues Paradigma, “in dem nicht mehr (ökonomisch nicht absehbares und ökologisch nicht erwünschtes) Wirtschaftswachstum, sondern politische Umverteilung die Schlüsselkategorie darstellt”.2

Die Ungleichheit hat zugenommen

Vor der Auseinandersetzung mit einzelnen Ergebnissen des Regierungsberichts ist der Hinweis wichtig, dass die empirischen Grundlagen – vor allem im Bereich Einkommen und Vermögen – durch solch gravierende Unzulänglichkeiten gekennzeichnet sind, dass die Aussagen in der Regel nur sehr grobe Schätzungen sind.

Die Regierung selbst weist in ihrem Bericht, vor allem aber im ausführlichen Materialband zum Bericht, auf dieses Problem hin. Erstaunlicherweise schenkt sie solchen Anmerkungen im Folgenden dann aber selbst keine hinreichende Beachtung mehr und geht angesichts dieser gewichtigen Einwände nicht immer mit der erforderlichen Zurückhaltung und Sorgfalt an die Interpretation der Daten. Beides, die Mängel der Datenbasis und der mitunter zu sorglose Umgang der Regierung mit den so ermittelten Daten, sollte bei der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen des Berichts und seinen Interpretationen beachtet werden.

Einkommen

Der Bericht stellt bei einer Betrachtung aller Haushalte in den alten Bundesländern für den Untersuchungszeitraum von 1973 bis 1998 eine deutliche Zunahme der Ungleichheit der Marktäquivalenzeinkommen fest. Die Ursachen hierfür sieht er im “Anstieg der Arbeitslosigkeit und der demografisch bedingt steigenden Zahl der Haushalte mit keinem oder nur geringfügigen Markteinkommen”. [S. 22] Ergänzend sei auf die Entwicklung der Nettorealeinkommen hingewiesen: Während sie zwischen 1973 und 1998 im Durchschnitt aller Haushalte um (preisbereinigt) etwa 38% angestiegen sind, blieb der Zuwachs bei den 10% der Haushalte mit den geringsten Einkommen auf 20% begrenzt: ein Rückstand von immerhin 18 Prozentpunkten. Dieser Rückstand erklärt sich u.a. durch die Probleme der Gewerkschaften, gegen den Widerstand der Arbeitgeber und den gesellschaftlichen Mainstream Verbesserungen für die unteren Tarifgruppen durchzusetzen, und durch die Zunahme prekärer Beschäftigung und von Teilzeitstellen.

In der Vergangenheit lag ein wichtiger Erfolg der sozialstaatlichen Umverteilung in der deutlichen Reduzierung dieser Ungleichheit. Die ausgleichenden Effekte dieser Umverteilung sind im Zeitverlauf allerdings schwächer geworden ist – eine unmittelbare Folge des Sozialabbaus.

Die Ungleichheit der Marktäquivalenzeinkommen fiel in den neuen Ländern noch höher aus als in den alten und stieg zudem von 1993 bis 1998 deutlich an. Da die Einkommenssituation in den neuen Ländern aber gerade im unteren Bereich durch staatliche Eingriffe wesentlich stärker korrigiert wird als in den alten, fällt die Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen in den neuen Ländern wesentlich gleichmäßiger aus als in den alten.

Weitere Ergebnisse des Berichts:

  • Je nach Berechnungsmethode waren 1998 in den alten Ländern zwischen 6,6% und 20% der deutschen Bevölkerung (ohne AusländerInnen) einkommensarm; dies waren zwischen 3,9 Mio. und 11,9 Mio. Personen. In den neuen Ländern lag der Anteil des unteren Einkommensbereichs – unter Zugrundelegung des ostdeutschen Einkommensniveaus – zwischen 2,8% und 11,9%; dies waren zwischen 0,5 Mio. und 1,8 Mio. Personen.
  • Auf der Grundlage des Bruttoeinkommens gab es 1995 in Deutschland 27.230 EinkommensmillionärInnen, davon waren 76% Selbstständige und 24% abhängig Beschäftigte.
  • Wird das Doppelte des durchschnittlichen Bruttoeinkommensals Abgrenzung gewählt (also 133.646 DM), steigt die Zahl der Reichen sprunghaft an: Etwa 2 Mio. Steuerpflichtige zählen dazu, wobei nun die abhängig Beschäftigten mit 74% die dominierende Gruppe sind.

Vermögen

Verzinsliches Geldvermögen und Immobilien summierten sich nach Abzug der Bau- und Konsumschulden gemäß den Ergebnissen der EVS 19983 auf ein Nettovermögenin Höhe von durchschnittlich 254.000 DM je Haushalt in den alten und 88.000 DM in den neuen Ländern. Hinter diesen Durchschnittsbeträgen stand eine erhebliche Ungleichverteilung der Vermögen: 1998 waren in den alten Ländern etwa 42% des Privatvermögens im Besitz der vermögendsten 10% der Haushalte, während den unteren 50% der Haushalte nur 4,5% des Vermögens gehörten. In den neuen Ländern war die Ungleichheit der Vermögensverteilung noch größer. Zu beachten ist, dass die Verteilung der Vermögen sehr stark von Immobilienvermögen beeinflusst wurde, worüber jedoch nur 49% der Haushalte in den alten und 34% der Haushalte in den neuen Ländern verfügten.

Bereits diese Ergebnisse belegen die sehr ungleiche Vermögensverteilung in Deutschland. Hinzu kommt, dass sich diese Ergebnisse nur auf das Privatvermögen in einem engeren Sinne beziehen. Langlebige Konsumgüter, Betriebsvermögen sowie Bargeld und Guthaben auf Girokonten sind darin grundsätzlich nichtenthalten. Diese Abgrenzung erlaubt also gar keine umfassenden Aussagen über die Vermögensverteilung im weiteren Sinne – was der Bericht in einem Nebensatz auch zugibt [vgl. S. 44]. Des Weiteren ist zu beachten, dass “beim steuerlichen Gesamtvermögen privater und betrieblicher Grundbesitz erheblich unter dem Marktwert mit starren Einheitswerten angesetzt wird, Schulden dagegen voll abgezogen sind.” [S. 65] Zinn stellt deshalb völlig zu Recht die Frage, “ob die Auslassung der Produktivkapitals in der Beschreibung der Vermögensverteilung, die aus technischen Gründen nicht erfassten sehr hohen Vermögen sowie die Ausblendung des Problems der Steuerhinterziehung nicht bedeuten, dass durch die damit bedingte Unterschätzung der Reichtumskonzentration nicht einer verharmlosenden Betrachtung Vorschub geleistet wird.”4

Maßnahmen der Bundesregierung

Viele der politischen Maßnahmen der Bundesregierung haben Auswirkungen auf Armut und Reichtum in Deutschland gehabt, darunter auch solche, bei denen diese Auswirkungen nicht sofort zu erkennen sind. Bei der “ökologischen” Steuerreform z.B. werden ärmere BezieherInnen von Sozialleistungen einseitig belastet, ohne soziale Kompensation zu erhalten. Ein anderes Beispiel ist die unzureichende personelle und finanzielle Ausstattung der Finanzbehörden im Innen- und Außendienst, die eine wirksame Bekämpfung der Reichtumsanhäufung durch Steuerhinterziehung erheblich erschwert. Hieran Kritik zu üben und Alternativen aufzuzeigen ist wichtig und war auch Gegenstand unseres Projekts.

Im Folgenden werden jedoch die Einkommensteuer-, Renten- und Sozialhilfepolitik der Bundesregierung hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Armut und Reichtum in Deutschland untersucht, mithin jene Politikfelder, deren Effekte auf Armut und Reichtum besonders deutlich zutage treten.

Steuerpolitik

Entgegen der Behauptung der Bundesregierung, “soziale Gerechtigkeit wieder zu einer Kategorie der Steuerpolitik gemacht” [S. 220] zu haben, zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass ihre Steuerpolitik das Ziel sozialer Gerechtigkeit verfehlt. Zwar werden durch die Anhebung des Steuerfreibetrages und die Absenkung des Eingangssteuersatzes untere Einkommensgruppen bei ihrer durchschnittlichen Besteuerung entlastet. Vollständig wird das Bild jedoch erst dann, wenn man auch die Finanzierung steuerlicher Entlastungen sowie die Gesamtverteilung der Einkommen nach Steuern untersucht.

Im Hinblick auf die Prozentpunkt-Entlastung beim Durchschnittssteuersatz gilt: Wer mit seinem zu versteuernden Einkommen unter dem alten steuerfreien Existenzminimum (12.300 DM) liegt, wird nicht entlastet, weil er/sie bislang ohnehin keine Lohn- bzw. Einkommensteuer zahlte. Bis zu einem zu versteuernden Einkommen von etwa 22.000 DM nimmt die Entlastung an Prozentpunkten bei der durchschnittlichen Besteuerung zu. Im Bereich zwischen 22.000 DM und 80.000 DM wird die durchschnittliche Steuerbelastung zwar auch verringert, aber die Entlastung selber nimmt mit zunehmendem zu versteuerndem Einkommen ab. Ab einem zu versteuernden Einkommen von etwa 85.000 DM nimmt die Entlastung schließlich wieder deutlich zu und erreicht Spitzenwerte. Die reichsten EinkommensbezieherInnen mit überdies guten Abschreibungsmöglichkeiten genießen also die stärkste Entlastung. Diese Steuerpolitik ist keineswegs alternativlos. Weil Absenkungen des Eingangssteuersatzes und Anhebungen des Steuergrundfreibetrages alle SteuerzahlerInnen entlasten, hätte eine Politik sozialer Umverteilung die Senkung des Eingangssteuersatzes um eine Erhöhung der Spitzensteuersatz ergänzen müssen. Da die Bundesregierung aber – anknüpfend an die Politik der Kohl-Regierung – hohe Einkommen besonders fördern möchte, zieht sie es vor, die hieraus entstehende Deckungslücke in Höhe von 93,4 Mrd. DM durch Sozialabbau (etwa das Sparpaket) und Ausgabenkürzungen im Bundeshaushalt gegen zu finanzieren.

Auch wenn die Bundesregierung in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht behauptet: “Die Ungleichheit der Einkommen (…) aus dem Marktprozess (…) wird (…) durch Transferleistungen einerseits sowie Steuern und Sozialversicherungsbeiträge andererseits wesentlich reduziert” [S. XVI], gibt sie nur die halbe Wahrheit wieder. Angegeben werden muss auch, inwiefern sich die Einkommensverteilung zwischen Lohnarbeit und Kapital durch die staatliche Umverteilung geändert hat. Hierbei dürfen nicht nur die isolierten Effekte der Einkommensteuerreform Gegenstand des Interesses sein, sondern auch jene aller weiteren fiskalischen Maßnahmen.

1999 betrug die strukturbereinigte Bruttolohnquote 72,7% gegenüber einer Bruttogewinn- und Vermögenseinkommensquote von 27,3%. Nach der sozialstaatlichen Umverteilung betrug der Anteil der Nettolöhne und -gehälter am verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte 43,0%, jener der monetären Sozialleistungen 26,1% und jener der Gewinn- und Vermögenseinkommen 30,5%.5 Die auf die gesamte Bevölkerung bezogene Ungleichheit wird zwar durch Sozialleistungen erfolgreich reduziert, aber der Anteil der Gewinn- und Vermögenseinkommen am Volkseinkommen steigt sogar ein wenig durch die Umverteilung.6 Sozialleistungen werden offensichtlich vor allem von den ArbeitnehmerInnen finanziert.

Rentenreform

In ihrem Armuts- und Reichtumsbericht behauptet die Bundesregierung, die Reform der Alterssicherung sorge “für langfristig stabile Beitragssätze und ein hohes Rentenniveau” [S. XV]. Diese Beschreibung geht an der Wirklichkeit vorbei. Die Rentenreform ist vielmehr sozial ungerecht und sozialstaatswidrig: Denn einerseits werden die ArbeitnehmerInnen bei der Finanzierung der Rente belastet, indem ihre Beiträge von 11,8% auf 15% im Jahre 2030 steigen, wohingegen der Arbeitgeberbeitrag um 0,8%-Punkte reduziert wird.7

Andererseits steht es auch um die Leistungsseite der Rente schlecht, denn das Nettorentenniveau wird von heute 69% auf 64,3% im Jahre 2030 gesenkt. Diesen Sozialabbau möchte die Bundesregierung durch Förderung kapitalgedeckter Vorsorge kompensieren, die angeblich zu einem Leistungsplus für die RentnerInnen führe. Allerdings beläuft sich dieses angebliche Plus an Absicherungsniveau gegenüber der Regelung vor der Reform auf gerade einmal 215 DM pro Monat im Jahre 2030. Dieses geringe Plus wird jedoch durch erhebliche Nettoeinkommenseinbußen um 2 Prozentpunkte8 für die Gesamtdauer der Beitragsjahre finanziert!

Zudem bleibt zweifelhaft, ob die Reform überhaupt ein Leitungsplus erzielt, denn die angekündigte Rendite der Privatvorsorge von 4% p.a. muss in der Realwirtschaft verdient werden. Die zu verteilende Masse ist aber beim Kapitaldeckungs- nicht höher als beim Umlageverfahren, zumal die Kapitalverwaltungsstellen bei Privatanlagen die Renten um ihren eigenen Profit kürzen. Aber es gibt noch weitere Zweifel am Leistungsplus: Die mit der Kapitaldeckung erhoffte Wachstumssteigerung ist unwahrscheinlich,9 aufgrund des ungleichen Verhältnisses von Kapitalanlage und -auflösung drohen Entwertungsgefahren der Anlagen, und zuletzt sind wegen Turbulenzen auf den Finanzmärkten die privaten Anlagen einem höheren Risiko ausgesetzt als Anwartschaften des umlagefinanzierten Rentensystems.10

Inakzeptabel ist auch, dass private Anlageformen höhere Risiken mit höheren Prämien oder geringeren Leistungen bestrafen. Arme, Kranke und Frauen werden schlechter gestellt; Risiken wie Invalidität, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Kindererziehung werden nicht berücksichtigt.

Fatal ist außerdem, dass viele ArbeitnehmerInnen mit geringem Einkommen als zukünftige RentnerInnen unter Sozialhilfeniveau fallen werden. Bei einem Nettorentenniveau von 64% sind z.B. für Alleinstehende, die 75% des durchschnittlichen Bruttoentgelts verdienen, 39 Beitragsjahre erforderlich, um die Sozialhilfeschwelle zu erreichen. Arbeitslosigkeit und diskontinuierliche Erwerbsbiographien werden stärker als zuvor zu einem Altersarmutsrisiko.11 Die zur “Grundsicherung” umetikettierte Sozialhilfe zur Bekämpfung versteckter Altersarmut droht so für viele zu einer “Regelrente” zu werden.

Die Einführung einer Kapitaldeckung ist falsch. Ärmere EinkommensbezieherInnen können trotz staatlicher Förderung kaum Vorsorge treffen und werden geringere Renten erhalten als heute; mittlere EinkommensbezieherInnen werden keine größere Änderung bei den Renten erfahren, aber die staatliche Förderung finanzieren dürfen; und wenige Reiche werden schließlich – am stärksten steuerlich gefördert – rentable Anlagen tätigen.12

Modifikationen der umlagefinanzierten Rente wie die Ausweitung der Versicherungspflicht auf Selbständige und FreiberuflerInnen, die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe sowie die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze bei unterproportionalem Anstieg der Höchstrente bleiben die Alternative.

Sozialhilfe

Gestatten wir uns einen kurzen Exkurs zur Kehrseite des Reichtums, zum Umgang des Regierungsberichts mit Armut und Sozialhilfe. Der Erkenntnis- und Aussagewert des schmalen Sozialhilfe-Kapitels im Berichtsteil fällt insgesamt deutlich hinter bisherige Nicht-Regierungsberichte zurück. Die Darstellungen zur Sozialhilfe folgen gänzlich der Linie der alten Regierung, die seinerzeit die Empörung der heutigen Regierungsfraktionen auf sich zog. Nur “fälschlicherweise” werde Armut mit Sozialhilfebezug gleichgesetzt [S. 74]. Die Sozialhilfe sichere das soziokulturelle Existenzminimum, garantiere die Bedarfsdeckung [ebd.] und schütze “vor Armut und sozialer Ausgrenzung” [S. 94]. Sozialhilfebezug erscheint auch hier als erfolgreich ‘bekämpfte Armut’.

Ernsthafte Probleme werden nur für den Personenkreis eingeräumt, der von der Sozialhilfe nur sehr eingeschränkt oder gar nicht erreicht wird. Dass hier gleich von “extremer Armut” [S. 93] die Rede ist, ist zwar sachlich richtig, doch mit der Logik, wonach Sozialhilfebezug vermiedene Armut sei, kaum in Einklang zu bringen. Die große Gruppe derer, die von Rechts wegen “von der Sozialhilfe nicht erreicht” werden, die bis zu 28% [S. 213] unter dem Sozialhilfeniveau existieren müssen und sich ihre Nahrung und Kleidung oft nicht einmal selbst kaufen dürfen, taucht in diesem Kontext aber gar nicht erst auf: Flüchtlinge, die dem Asylbewerber-Leistungsgesetz unterfallen. Nicht ihnen, sondern einer dürren Darstellung der (Un-)Rechtsverhältnisse werden ganz am Ende des Berichtsteils ganze 30 amtliche Zeilen gewidmet – wertfrei natürlich.

Zwei Jahrzehnte fachlicher Kritik am fortgesetzten sparpolitischen Bruch des Bedarfsdeckungsprinzips, an der Verletzung der Menschenwürde durch ein unzureichendes Sicherungsniveau, erheblich verschärft noch durch eine mittlerweile bundesweit organisierte restriktive Gewährungspraxis der Sozialämter (Motto: Wo kein Kläger, da kein Richter), werden hier ebenso vollständig ignoriert wie die Lebenserfahrung, dass Armut keineswegs erst bei Unterschreitung des Sozialhilfeniveaus beginnt.

Dies kann allerdings kaum verwundern, müsste die Bundesregierung doch ansonsten Selbstkritik üben. Denn Rot-Grün hat in der eigenen Gesetzgebung die Kohl/Blüm’sche willkürliche Deckelung der Regelsatzentwicklung und ihre systemwidrige Koppelung an die Rentenentwicklung samt dem armenpolizeilichen Repressionsinstrumentarium des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) ausdrücklich bestätigt. Mit der neu eingeführten Pauschalierungsklausel wurden den Kommunen zusätzliche Lebendversuche restriktiver Leistungsgewährung an den Hilfeberechtigten eröffnet.

Doch der Regierungsbericht macht deutlich, dass die Lebenssituation von Menschen im Hilfebezug ohnehin in keiner Weise interessiert. Der Fokus heißt Überwindung von Sozialhilfebezug – denn das hilft sparen.

Die Ausführungen zur Sozialhilfepolitik der Bundesregierung drehen sich folglich vor allem um die ‘Hilfe zur Arbeit’ nach BSHG und die “Verbesserung der Zusammenarbeit von Sozialämtern und Arbeitsverwaltung”. Die Sozialhilfepolitik soll vor allem ihre Anstrengungen erhöhen, die Leute in Arbeit zu bringen. Das wäre durchaus eine lohnende Orientierung, wenn denn der reguläre Arbeitsmarkt die erforderliche quantitative und qualitative Aufnahmefähigkeit aufwiese. Unter den gegebenen Umständen bleibt dies ein Weg nach nirgendwo.

Es sei denn, man setzt darauf, die einen mit Androhung der Kürzung oder Streichung der Hilfe in zweit- und drittklassige Sonderarbeitsmärkte (‘gemeinnützige Arbeitsgelegenheiten’, Niedriglohn- und bad jobs) zu drängen und die anderen mit diesen Aussichten davon abzuhalten, ihre Hilfeansprüche überhaupt geltend zu machen. Das ist in der Tat der rot-grüne Faden heutiger Sozialhilfe- und Arbeitsmarktpolitik, bekannt unter dem Slogan “Fördern und Fordern”. Dem liegt die sozialphilosophische Innovation zu Grunde, dass nicht der Mensch an sich einen Anspruch auf Menschenwürde habe, sondern nur dann, wenn er seine Arbeitspflicht gegenüber der Gesellschaft auch noch in der miesesten ‘Arbeitsgelegenheit’ erfülle, die Sozial- oder Arbeitsamt für ‘zumutbar’ erklären. Das Grundrecht der Berufswahlfreiheit scheint nur noch denen vorbehalten, um die sich tatsächlich mehrere Ausbildungsbetriebe reißen. Dergleichen zählt heute zum “Konsens der Demokraten”. Die “Zusammenarbeit von Sozialämtern und Arbeitsämtern”, vom rot-grünen NRW mit dem Projekt “Sozialagentur” und vom Bund mit dem Projekt MoZArT vorangetrieben, ist der erste Schritt zur Aussteuerung der Langzeiterwerbslosen aus der Sozialversicherung hinein in die Sozialhilfe. Die reale Botschaft auch des Armuts-/Reichtumsberichts für die in Armut lebende und von Armut bedrohte Bevölkerung lautet: Zieht Euch warm an – es wird kälter in Deutschland!

Was müsste aus dem Regierungsbericht folgern?

Statt die Vorlage des Berichts als Ausgangspunkt einer öffentlichen Debatte über die Sozialpflichtigkeit des Eigentums im Allgemeinen und großer Vermögen im Besonderen zu nutzen, warnt die Regierung davor, “den in Deutschland vorhandenen Wohlstand und Reichtum (…) zu dämonisieren und Neiddiskussionen (…) Vorschub zu leisten.” [S. 3] Allerdings schürt die gleiche Regierung “Sozialneid” von Geringverdienenden gegenüber Erwerbslosen und Sozialhilfeberechtigten (“Kein Recht auf Faulheit”). Demgegenüber muss es darum gehen, die Debatte über “leistungslose Einkommen” vom Kopf auf die Füße zu stellen, indem sie insbesondere die großen Vermögenseinkommen in den Blick nimmt. Wer Armut bekämpfen will, wird zwangsläufig die Interessen der Reichen (und Mächtigen) berühren. Wenn dieser Konflikt gescheut wird, braucht eine Diskussion über soziale Gerechtigkeit erst gar nicht begonnen zu werden.

Ob der Bericht zu einem “Kontrollinstrument” für die Wirksamkeit der Regierungspolitik werden kann, wie sich dies Konrad Gilges, Sprecher der Arbeitsgruppe Armut der SPD-Bundestagsfraktion, wünscht,13 erscheint mehr als fraglich. Um tatsächlich dazu beizutragen, die politischen Maßnahmen auf ihren Beitrag zur Bekämpfung der Armut und zur Verringerung der sozialen Spaltung hin zu überprüfen, müssten die kommenden Berichte deutlich mehr Qualitäten entwickeln als der jetzt vorgelegte. Denn bei diesem hat die Regierung erkennbar davor zurückgeschreckt, die vorhandenen Informationen über den wirklichen Reichtum zusammenzutragen. Die dem Bericht zugrunde gelegten Daten bilden eben nur einen kleinen Teil der tatsächlichen Vermögen ab.14 Zukünftige Berichte werden hier nur dann wirklich Erhellendes zur Debatte beitragen können, wenn auch auf Seiten der Regierung die Bereitschaft entsteht, Konflikte mit den Reichen einzugehen, die sich bisher noch allzu erfolgreich dagegen wehren, die tatsächlichen Verhältnisse öffentlich werden zu lassen. Allerdings gibt es keine Indizien dafür, dass eine solche Bereitschaft entstehen könnte. Stattdessen ist die neue Debatte über den sozialdemokratischen Gerechtigkeitsbegriff darauf ausgerichtet, das Thema “Verteilungsgerechtigkeit” von der Agenda zu streichen und durch “Chancengerechtigkeit” zu ersetzen.

Zu ihren Oppositionszeiten zeigte die SPD-Bundestagsfraktion noch größeres Interesse: In einer Großen Anfrage zur “Entwicklung der Vermögen und ihrer Verteilung”15 wollte sie u.a. Auskünfte über die Verlagerung von Vermögen ins Ausland, die Möglichkeiten von Selbständigen-Haushalte zur legalen und illegalen Steuervermeidung, mögliche Maßnahmen gegen spekulative Finanztransaktionen und die Steuerausfälle durch den Transfer von privatem Geldvermögen in das (benachbarte) Ausland erhalten. Diese Fragen, auf die sie damals unbefriedigende Auskünfte erhalten hatte, stellt sie heute erst gar nicht mehr. Bei Bündnis 90/Die Grünen, deren Haushaltsexperten Oswald Metzger es vorbehalten blieb, die Vermögenssteuer öffentlich als “Neidsteuer” zu desavouieren, fällt die Abkehr von den früheren programmatischen Aussagen zu Reichtum und Armut noch weit krasser aus.

So spricht gegenwärtig leider nichts dafür, dass die Regierung bereit wäre, einen ersten bescheidenen Fortschritt dadurch zu ermöglichen, dass sie die folgenden Berichte durch unabhängige ExpertInnen erstellen lässt. Gleiches gilt für die Forderung, die Armuts- und Reichtumsberichterstattung auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen, um etwaigen Neigungen, von einer regelmäßigen Berichterstattung aus Gründen politischer “Opportunität” wieder Abstand zu nehmen, eine höhere Schwelle entgegenzusetzen.

Gesellschaftlicher Druck muss u.E. darauf ausgerichtet sein, gegenüber dem sich abzeichnenden Konzept eines (post-sozialstaatlichen) “Wettbewerbsstaates” die Alternative eines Neuen Sozialstaats einzufordern. Denn entgegen allen Unkenrufen war der Sozialstaat durchaus ein erfolgreiches Instrument, um die dem Kapitalismus innewohnende gesellschaftliche Ungleichheit zu verringern.16 Um seinen Kernaufgaben wirksamer und solidarischer Absicherung der großen Lebensrisiken Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Erwerbslosigkeit und Armut gerecht werden zu können, muss sich der Neue Sozialstaat vor allem als Umverteilungsstaat betätigen. Die Grundlage hierfür läge in einer Revitalisierung und Operationalisierung des Verfassungsgrundsatzes von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Insbesondere durch angemessene Heranziehung von Arbeitgebern und Vermögensbesitzenden zu Steuern und Abgaben ist die paritätische Finanzierungsverantwortung für die Sozialversicherung und die Solidarität der Starken mit den Schwachen wieder her zu stellen.

Des Weiteren ist die Ungleichheit bereits in der Primärverteilung zwischen Kapital und Arbeit zu verringern. Eine wirksame Korrektur der Primärverteilung wird nur erreichbar sein, wenn die Gewerkschaften sich aus ihrer gegenwärtigen Rolle als Co-Manager der “Standort Deutschland AG” befreien und eine umverteilungsorientierte und stärker egalitär ausgerichtete Tarifpolitik betreiben würden. Der Neue Sozialstaat hätte dies durch die Rücknahme gesetzlicher Einschränkungen des Streikrechts und ein Verbot der Aussperrung, aber auch mit einer Novelle des Arbeitszeitrechts, die Höchstarbeitszeiten und Mehrarbeit wirksam reduziert, zu unterstützen.Denn das wichtigste Korrekturerfordernis bei der Primärverteilung ist Beschäftigungsaufbau mit dem Ziel der Vollbeschäftigung, vor allem durch rasche und deutliche Arbeitszeitverkürzungen bei gesicherten Einkommen.

Zwar können und müssen die Armutsfolgen der Massenerwerbslosigkeit durch eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung gemildert werden, deren Niveau im Unterschied zur heutigen Sozialhilfe – auch im Unterschied zur rot-grünen “Grundsicherung” – Einkommensarmut tatsächlich verhindert. Eine ursachenorientierte Strategie der Armutsvermeidung bleibt aber an Vollbeschäftigung gebunden. Eine solche Strategie muss neben radikaler Arbeitszeitverkürzung auch auf einem neuen Normalarbeitsverhältnis basieren, das Diskontinuitäten und Flexibilitätsbedarfe der bisher “weiblichen” Erwerbsbiografie als Regelfall zu Grunde legt und damit der Gleichstellung von Frauen in der Erwerbsgesellschaft zum Durchbruch verhilft. Weitere wichtige Elemente dieser Strategie sind staatliche Investitionsprogramme in Soziales, Ökologie, Bildung und Gesundheit sowie der Ausbau öffentlicher Beschäftigung zu regulären Konditionen durch Stärkung des öffentlichen Dienstes sowie öffentliche geförderte reguläre Beschäftigung für diejenigen, die am Arbeitsmarkt als “nicht wettbewerbsfähig” gelten.

Wie soll dieses Programm finanziert werden – Geld ich schließlich genug da!

Um Umverteilung finanzieren zu können, ist auch in der Finanzpolitik eine alternative Logik notwendig. Einer umverteilenden Politik, die Armut bekämpft, wird jedoch von Seiten der Bundesregierung entgegengehalten, sie sei nicht finanzierbar. Die Regierung verschweigt jedoch bewusst, dass der gesellschaftliche Reichtum in Deutschland enorm ist – Reichtum, der dazu verwendet werden muss, gesellschaftlich notwendige Aufgaben zu finanzieren. Bereits heute kann eine Vielzahl finanzpolitischer Maßnahmen zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben ergriffen werden. Aus dieser Vielzahl seien diejenigen finanzpolitischen Maßnahmen benannt, die u.E. besonders wichtig sind.

Steuerpolitik muss sozial gerecht sein und die Leistungsfähigkeit der zu Besteuernden beachten. Hohe Einkommen müssen daher wesentlich stärker als bislang besteuert werden, weswegen der Spitzensteuersatz anzuheben ist. Überdies muss die Steuerpolitik auch Vermögen ins Visier nehmen. Vermögen wirft Erträge ab, ohne dass hierfür Leistungen erbracht werden. Eine Wiedereinführung der ausgesetzten Vermögensteuer ist daher dringend erforderlich. Wichtig ist auch eine Reform der Erbschaftssteuer, denn Erbschaften stellen Vermögensübertragungen ohne Gegenleistung dar. Bei der Vermögen- wie auch der Erbschaftsteuer müssen Verkehrs- statt Einheitswerte angesetzt und mit angehobenen Tarifen besteuert werden. Schlussendlich fordern wir die entschiedene Bekämpfung von Steuerflucht und Steuerhinterziehung durch personelle Aufstockung der Finanzbehörden.

1 Vgl. Dräger, Klaus / Buntenbach, Annelie / Kreutz, Daniel : Zukunftsfähigkeit und Teilhabe. Alternativen zur Politik der rot-grünen Neuen Mitte, Hamburg 2000, S.77 ff.

2 Urban, Hans-Jürgen: Reformoptionen im Sozialstaat. Über die Perspektiven des sozial regulierten Kapitalismus; in: Schmitthenner, Horst / ders.: Sozialstaat als Reformprojekt. Optionen für eine andere Politik, Hamburg 1999, S. 11-59, hier: S. 42.

3 Auch hier ist wieder zu beachten, dass die wirklich Einkommensreichen, denen auch ein hohes Vermögen unterstellt werden kann, nichterfasst sind.

4 Zinn, Karl Georg: Gediegene Daten – problematische Rezepte. Zum “ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung”, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 6/2001, S. 20-29, hier: S. 24.

5 Vgl. Schäfer, Claus: Privater Reichtum um den Preis öffentlicher und privater Armut? Die Verteilungsentwicklung in 1999 und den Vorjahren, in: WSI-Mitteilungen 11/2000, S. 744-764, hier: S. 746.

6 Vgl. Bischoff, Joachim / Lieber, Christoph: Gerechtigkeit im hochentwickelten Kapitalismus, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 5/2001, S. 1-30, hier: S. 9 f.

7 Vgl. Steffen, Johannes: Tatsachen zur rot-grünen Renten-“Reform”, http://www.barkhof.uni-bremen.de/kua/memo/docs/m0012.pdf (Stand: 18.01.2001).

8 Vgl. Steffen, Johannes: Tatsachen zur rot-grünen Renten-“Reform”, http://www.barkhof.uni-bremen.de/kua/memo/docs/m0012.pdf (Stand: 18.01.2001). 215 DM in 2030 entsprechen übrigens unter Annahme einer durchschnittlichen jährlichen Inflationsrate von 1,5% einem heutigen Betrag von etwa 140 DM. Die 2 Prozentpunkte errechnen sich unter Berücksichtigung der steuerlichen Förderung.

9 Vgl. hierzu Krupp, Hans-Jürgen: Ist das Kapitaldeckungsverfahren in der Alterssicherung dem Umlageverfahren überlegen?, in: WSI-Mitteilungen 5/1997, S. 293.

10 Vgl. Zinn, Karl Georg: Sozialstaat in der Krise. Zur Rettung eines Jahrhundertprojekts, Berlin 1999, S. 85 f.

11 Vgl. Steffen, Johannes: Tatsachen zur rot-grünen Renten-“Reform”, http://www.barkhof.uni-bremen.de/kua/memo/docs/m0012.pdf (Stand: 18.01.2001).

12 Vgl. Welti, Felix: Was ist Generationengerechtigkeit?, in: spw. Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 117, 1/2001, S. 43-46, hier: S. 44 f.

13 Pressemitteilung der SPD-Bundestagsfraktion vom 25. April 2001.

14 Siehe u.a.: Rügemer, Werner: Vermögen in Deutschland: Wirklicher Umfang, Entstehung und (a)soziale Wirkung, in: AG “Umverteilen!” (Hrsg.): Umverteilen! Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit, Dortmund 2000, S. 110-117.

15 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion “Entwicklung der Vermögen und ihrer Verteilung”, Bundestags-Drucksache 13/3885 vom 28. Februar 1996. Wir danken Werner Rügemer für seinen Hinweis auf diese Anfrage.

16 Vgl. Zinn, Karl Georg: Gediegene Daten – problematische Rezepte. Zum “ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung”, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 6/2001, S. 20-29, hier: S. 22.

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