Sozialistische Knotenpunkte

Sozialistische Knotenpunkte

Erschienen in Z 123

André Biederbeck, Das Dortmunder Arbeitermilieu 1890-1914, Böhlau Verlag, Köln/Weimar 2019, 426 Seiten, 60 Euro

Buchbesprechung

Der Historiker André Biederbeck hat eine beeindruckende Studie vorgelegt. Ausgehend vom Konzept des „kollektiven Gedächtnis“, das der französische Soziologe Maurice Halbwachs1 wesentlich geprägt hat, analysiert er die Bedeutung von Räumen und Orten für die Konstituierung einer sozialistischen Identität. Als Untersuchungsraum hat er das Gebiet der heutigen Stadt Dortmund gewählt. Zeitlich konzentriert er sich auf die Jahre 1890 bis 1914, also auf die Zeitspanne vom Ende der Sozialistengesetze bis zum Beginn des 1. Weltkrieges.
Biederbeck gibt zunächst einen Überblick über die wirtschaftliche und die demographische Entwicklung im Dortmunder Raum und gelangt auf dieser Grundlage zu dem erstem Zwischenfazit, „dass die Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur des Dortmunder Gebiets für die Herausbildung eines sozialistischen Milieus die notwendigen Voraussetzungen bot“. (63)
Für die Konstituierung einer sozialistischen Identität ist es von großer Bedeutung gewesen, dass sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die betrieblichen Erfahrungswelten und sozialen Lage der Arbeitenden angeglichen haben. Aus diesem „gemeinsame ‚Erfahrungsfundus‘„ (85) folgt aber nicht automatisch die Ausbildung eines sozialistischen Milieus. Nur wenn eine größere Zahl von Angehörigen der Arbeiterklasse tatsächlich die eigene Lage in spezifischer Weise deutet, sich in einem breit gefächerten und miteinander verwobenen sozialistischen Gewerkschafts- und Vereinswesen organisiert und der Sozialdemokratischen Partei bei den Wahlen die Stimme gibt, können Milieustrukturen als existent angenommen werden – so die These Biederbecks. (32) Seine Untersuchung der Entwicklung der Siedlungsstruktur und der Entwicklung des sozialistischen Vereinswesens bestätigt diese These und so gelangt Biederbeck zum zweiten Zwischenfazit, „dass es in Dortmund zwischen 1890 und 1914 ein sozialistisches Milieu gegeben hat“. (348)
Welche Bedeutung haben nun Räume und Orte für diese Konstituierung eines sozialistischen Milieus? Wie erwähnt greift Biederbeck hierzu auf das Konzept des „kollektiven Gedächtnisses“ zurück. Halbwachs unterstellt, dass Menschen ihre Erinnerungen innerhalb eines festgelegten Raums wiederfinden, und dass es das Selbstbewusstsein einer Gruppe stärkt, solche Erinnerungsorte geprägt zu haben. Die vertraute Physiognomie eines Ortes bietet Identifikationsmöglichkeiten und regt auch dadurch die Bildung und Festigung von Gruppenidentitäten an.
Solche Orte, die Gruppenidentitäten festigen, werden von Biederbeck „sozialistische Knotenpunkte“ (135 ff.) genannt. Das können Vereinslokale, Gaststätten, Partei- oder Gewerkschaftsbüros oder Läden von Konsum- und Sparvereinen sein.
In einer enormen Fleißarbeit identifizierte er über 170 Stätten, an denen sich im Dortmunder Raum die sozialistische Arbeiterschaft getroffen hat. Nicht alle dieser Stätten erfüllen jedoch die Funktion eines „sozialistischen Knotenpunktes“. Dazu müssten sie über eine längere Zeit von verschiedenen Nutzergruppen und für verschiedene Veranstaltungstypen genutzt worden sein. Zudem kommt es auch auf die Häufigkeit der Nutzung an. Diese Anforderungen erfüllten 52 der identifizierten Stätten.
Anhand einer akribischen Beschreibung werden für 13 dieser Stätten die Lage im Untersuchungsgebiet, das Raumprogramm, das Erscheinungsbild sowie die Ausstattung dieser Gebäude ausführlich vorstellt. Eingehend wird ihre Funktion für eine mögliche Milieubildung analysiert. So entsteht ein guter Eindruck von der „Bedeutung der Gebäude für die Entstehung und Verfestigung einer sozialistischen Gemeinschaft“. (141)
Aber die Studie hat auch Schwächen. So irritiert Biederbecks Gleichsetzung von sozialdemokratischem Arbeitermilieu mit dem „Dortmunder Arbeitermilieu“ als Ganzes. Dabei weist er selbst wiederholt auf „Konkurrenzorganisationen“ (85), wie die christlichen Gewerkschaften oder die national-liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen, das starke Abschneiden der katholischen Zentrumspartei auch in der Arbeiterschaft oder die Präsenz der christlichen Gemeinschaften mit ihrem umfangreichen Vereinsnetz, ihren Kirchenbauten und Gemeindehäusern in den Arbeiterquartieren hin. Zudem bestand die deutsche Arbeiterklasse vor dem ersten Weltkrieg in ihrer sozialen Zusammensetzung nicht nur aus Facharbeitern und Handwerkern, also den Berufsgruppen, aus deren Reihen sich die Mitgliedschaft der Sozialdemokratie in Besonderem Maße rekrutiert. Karl Heinz Roth wies schon 1974 darauf hin, dass zur Arbeiterklasse auch die ungelernten Handlanger und die nichtprofessionellen Schwerarbeiter gehörten.2 Er mahnte zu Recht an, sich auch diesen proletarischen Schichten zuzuwenden. Wer über das Dortmunder Arbeitermilieu forscht, der darf diese Menschen nicht nur beiläufig als „Hypothek für die Ausbildung sozialistischer Vergemeinschaftungsformen“ (65) erwähnen. Beruhte der starke Bevölkerungsanstieg in Dortmund doch im Wesentlichen auf dem anhaltenden Zuzug auswärtiger Arbeitskräfte. Darunter vor allem ab den 1880er Jahre viele ungelernte Kräfte aus den agrarisch geprägten preußischen Ostprovinzen.
Der Schwerpunkt von Biederbecks Studie liegt auf einzelnen Gebäuden. In der historischen und stadtsoziologischen Forschung steht jedoch eher der Zusammenhang zwischen segregierten Wohnquartieren der arbeitenden Klassen und der Herausbildung von Klassenbewusstsein und -milieus mit ihren je eigenen Lebensformen und Kommunikationsstrukturen im Vordergrund. Um zu Hochburgen der Arbeiterbewegung zu werden, bedurfte es in diesen Wohnquartieren nicht nur der Ergänzung der Arbeitsplatzerfahrungen durch gleiche Alltagserfahrung in der arbeitsfreien Zeit und der nachbarschaftlichen Kontakte, sondern auch einer organisierten Arbeiterbewegung, die politische Orientierung vermitteln konnte. Hier kommen zwar Biederbecks „sozialistische Knotenpunkte“ ins Spiel. Allerdings als ein Bestandteil eines umfassenden Syndroms. Auf die anderen Bestandteile dieses Syndroms und ihre Wechselbeziehungen geht Biederbeck aber nur beiläufig ein.
Zum Schluss: Geradezu grotesk ist Biederbecks Darstellung der „Defizite der Klassenmodelle“. (15) In gerade einmal zwölf Zeilen, ergänzt um drei Fußnoten, handelt er den marxistischen Klassenbegriff ab. Nach Biederbeck hat Marx postuliert, dass das Bewusstsein eines Menschen und seine Sicht auf die Welt „allein und notwendigerweise“ (15) durch die Stellung im Produktionsprozess bestimmt wird. Diese „Kenntnisse“ fußen ausschließlich auf Sekundärliteratur. Selbst für seine Kritik am „Kapital“ hat er – ausweislich des Literaturverzeichnisses – keinen Blick in das Original geworfen. Eine so oberflächliche Befassung verwundert in einer ansonsten akribischen wissenschaftlichen Arbeit.

1  Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 1939 (dt. 1967).

2 Karl Heinz Roth, Die „andere“ Arbeiterbewegung, 1974.

Veröffentlicht in: Z – Nr. 123 September 2020, S. 210-213.

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