Kontinuität und Wandel des Arbeiterbewusstseins

Kontinuität und Wandel des Arbeiterbewusstseins

Erschienen in Marxistische Blätter 6-2007

Aktuelle Erhebungen zeigen, wohlmöglich entgegen der Intension ihrer Auftraggeber, Anknüpfungspunkte für antikapitalistische Politik. Auch zwei fundiertere sozialwissenschaftliche Untersuchungen aus den Jahren 2000 und 2004 kommen zu Ergebnisse, die die Linke aufhorchen lassen sollte.

Die Einbeziehung ausgewählter industriesoziologischer Untersuchungen der letzten 50 Jahre verdeutlicht einerseits Konstanten in Einstellungen und Bewusstseins Lohnabhängiger, wirft aber andererseits durch teils widersprüchliche Untersuchungsergebnisse Fragen auf.

Auf alle Fälle gilt jedoch, sich nicht nur die Rosinen rauszupicken, sondern auch die Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen, die Hindernisse für die Durchsetzung antikapitalistischer Politik darstellen.

0. Einleitung

Schon Friedrich Engels hat den Versuch unternommen, ein treues Bild der Lebensbedingungen, Leiden und Kämpfe der Arbeiter, ihrer Hoffnungen und Perspektiven zu zeichnen. Zu diesem Zweck begnügte er sich nicht mit dem Studium verschiedener Dokumente, sondern stützt sich auf seine eigene Anschauung und auf authentische Quellen: er sah sich die Behausungen der Arbeiter an, beobachtete deren tägliches Leben, sprach mit ihnen über ihre Lebensbedingungen und Schmerzen und war Zeuge ihrer Kämpfe gegen die soziale und politische Macht ihrer Unterdrücker – so nachzulesen in seiner Widmung an die arbeitenden Klassen Großbritanniens zu seinem Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“.1

Teilnehmende Beobachtung und offene Interviews sind auch heute noch bewährte Instrumente der empirischen Sozialforschung, wenn auch standardisierte Fragebögen das gebräuchlichere Untersuchungsinstrument sind.

Über die geeigneten sozialwissenschaftlichen Methoden gibt es allerdings unterschiedliche Auffassungen. So bestehen Zweifel an der Eignung quantitativer Erhebungsmethoden (standardisierte Fragebögen) bei der Ermittlung von Einstellungen, Werthaltungen, politische Präferenzen oder Klassenbewusstsein.2

Im Folgenden werden Studien vorgestellt, die unterschiedliche Erhebungsmethoden angewandt haben: Zum Einsatz kamen leitfadengestützte Interviews, standardisierte Fragebögen und Gruppendiskussionen.

Dies erschwert jedoch den Vergleich ihrer Ergebnisse, denn „das erkenntnisleitende Interesse der einzelnen Untersuchungen, ihr Gegenstand und ihre Methoden sind zu verschieden, als daß die Ergebnisse unkritisch einander gegenübergestellt werden könnten“.3

Trotzdem lassen sich aus den Studien – bei aller gebotenen Zurückhaltung bei der Interpretation der gewonnenen Daten – wichtige Erkenntnisse gewinnen. Angestrebt wird, ein realistischer Blick auf die Bereitschaft der arbeitenden Klassen, zur grundlegenden Veränderung der Gesellschaft beizutragen.

1. Schlaglichter:

Zunächst zwei Schlaglichter aus Erhebungen des vergangenen Jahres:

Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Müller-Hilmer, Rita / TNS Infratest Sozialforschung (Bearb.): Gesellschaft im Reformprozess (Juli 2006)

Die im Auftrag der SPD nahen Friedrich-Ebert-Stiftung von TNS Infratest Sozialforschung durchgeführte Studie „Gesellschaft im Reformprozess“4 stellte als dominante gesellschaftliche Grundstimmung „Verunsicherung“ fest. 63 Prozent (der Befragten) gaben an, die gesellschaftlichen Veränderungen machten ihnen Angst; 59 Prozent gaben an, sich derzeit finanziell einschränken zu müssen; 49 Prozent befürchten, ihren Lebensstandard nicht halten zu können; und 61 Prozent meinen, es gibt keine Mitte mehr, nur noch ein Oben und Unten.

Für eine Regierungspartei alarmierende Ergebnisse.

Renate Köcher: Die Distanz zwischen Bürgern und Wirtschaft wächst (Dezember 2006)

Die monatlich in der FAZ veröffentlichten Befragungsergebnisse des Instituts für Demoskopie Allensbach ermittelten im Dezember 2006 ähnlich „Beunruhigendes“5:

  • Die überwältigende Mehrheit bestreitet, dass Deutschland eine Soziale Marktwirtschaft hat.
  • Nichts ist der Bevölkerung zur Zeit so unheimlich, wie die Beobachtung, dass Arbeitsplätze selbst in Unternehmen, denen es gut geht, nicht mehr sicher sind.
  • Die Überzeugung hat sich verstärkt, dass Wirtschaft und Bevölkerung gegensätzliche und unvereinbare Interessen haben.

Aber trotz allem gilt von den Bundestagsparteien mit großem Abstand vor allem die SPD als „Anwalt der Interessen der kleinen Leute“.

2. Ausgewählte Ergebnisse zweier Studien:

Ändern sich die Ergebnisse, wenn nicht die Bevölkerung als Ganzes, sondern Teile der arbeitenden Klassen, konkret: Betriebsräten und gewerkschaftliche Vertrauensleute oder Industriearbeiter/-innen und -angestellte befragt werden?

Joachim Bergmann, Erwin Bürckmann und Hartmut Dabrowski: Krisen und Krisenerfahrungen. Einschätzungen und Deutungen von Betriebsräten und Vertrauensleuten (2002)

Im Rahmen des Forschungsprojektes „Krisen und Krisenerfahrungen. Einschätzungen und Deutungen von Betriebsräten und Vertrauensleuten“ wurden im Jahr 2000 38 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Lehrgängen im IG Metall-Bildungszentrum Sprockhövel interviewt. Alle Befragten kamen aus westdeutschen Betrieben; waren Betriebsratsmitglieder oder Vertrauensleute; Mitglied der IG Metall und – mit nur einer Ausnahme – entweder selbst Arbeiter oder vertraten, auch wenn sie selbst Angestellte waren, gewerbliche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Der Interpretation der Interviews liegt ein Krisenbegriff zugrunde, der unterstellt, dass die wichtigsten Kennzeichen der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik seit gut 20 Jahren Ausdruck des krisenhaften Umbruchs nach dem Ende der fordistischen Prosperitätsphase sind.

Urteile und Einschätzungen der Betriebsräte und Vertrauensleute

Eine wichtige Ursache für die Schwäche der Arbeiterklasse ist ihre interne Spaltung und Segmentierung entlang vielfältiger Trennungslinie. In der hier vorgestellten Untersuchung wurde diese Segmentierung von den Betriebsräten und Vertrauensleuten relativ selten explizit erwähnt. „Gleichwohl“ – so stellen Bergmann / Bürckmann / Dabrowski fest – „sind sich die Befragten der verschiedenen Interessenlagen sehr wohl bewusst, sie werden als selbstverständlich angesehen.“ 6 Sie machen dies an den Äußerungen zu den Unterschieden zwischen Leiharbeiter und befristet Beschäftigte einerseits und der Stammbelegschaft andererseits fest.

Die Organisationen der Arbeiterklasse sind aus Sicht der Befragten in keiner guten Verfassung: Die IG Metall ist nach ihrer Ansicht in der Defensive und fügt sich den Machtverschiebungen im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis; in der politischen Arena sehen sie sich „ohne verlässliche Repräsentanz“.7

Alles in allem hat Man sich mit den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen arrangiert; und trotz Enttäuschung und Kritik kann bei der großen Mehrheit der Befragten nicht von massiver Unzufriedenheit mit den politischen Zuständen die Rede sein.

Einerseits stellen Bergmann / Bürckmann / Dabrowski fest:

„Was die Befragten über die Angst um den Arbeitsplatz, über Leistungsdruck und Konkurrenzverhalten erzählen, kennzeichnet recht genau, was in der älteren Theoriesprache Lohnarbeiterexistenz hieß, und die einschlägigen Interviewpassagen lassen sich als Umschreibung von klassenspezifischen Erfahrungen interpretieren.“8

Andererseits ließ sich jedoch auch auf Nachfragen kein konturiertes Bild von unserer Gesellschaft gewinnen: Es fehlte weithin an Begriffen zur Kennzeichnung der gesellschaftlichen Ungleichheiten; zumeist blieben die Äußerungen der Einkommensdimension verhaftet; nur einer Minderheit der befragten Betriebsräte und Vertrauensleute waren elementare ökonomische Zusammenhänge bekannt.

„Die gelegentlich gestellten Nachfragen mit den Reizworten ‚Klassengesellschaft’ oder ‚Arbeiterklasse’ bereiteten zumeist Verlegenheit. Einige verstehen sie verharmlosend im Sinne der bekannten Statusdifferenzen von Arbeitern, Angestellten und Beamten; bei einigen jedoch lösten die Begriffe Irritationen und gelegentlich auch Abwehr aus.“9

Resümee: Aufklärung über die problematischen Folgen

Die Befragten sehen sich in der Defensive; sie erfahren gesellschaftliche Ohnmacht.

Formen einer „rationalen Verarbeitung und Deutung der Krisenerfahrungen“ (von den Autoren „reflektierte Ohnmachterfahrungen“10 genannt) stellen Bergmann / Bürckmann / Dabrowski jedoch nur bei acht Befragten fest. Das Problembewusstsein der großen Mehrzahl der befragten Betriebsräte und Vertrauensleute war vielmehr durch eine unzureichende Deutung der Krisenerfahrungen charakterisiert: Personalisierung, Ausblendung, Relativierung, abstrakte Forderungen, Ausweichen in Wunschvorstellungen, Suche nach Sündenböcken und Griff nach Klischees.

Sonja Weber-Menges: “Arbeiterklasse” oder Arbeitnehmer? Vergleichende empirische Untersuchung zu Soziallagen und Lebensstilen von Arbeitern und Angestellten in Industriebetrieben (2004)

Sonja Weber-Menges hat 2004 eine vergleichende empirische Untersuchung zu Soziallagen, Lebenschancen und Einstellungen von Arbeitern und Angestellten in westdeutschen Industriebetrieben vorgelegt.11 Befragt wurden Arbeiter und Angestellte unterschiedlicher Industriezweige und in Unternehmen unterschiedlicher Größe. Die Hauptuntersuchung wurde in Form einer schriftlichen Befragung (standardisierter Fragebogen) in 2001 durchgeführt. Die Stichprobe kann als repräsentativ Industriearbeiter und -angestellte in den alten Bundesländern gelten.

Weber-Menges unterscheidet vier Gruppen von Arbeitern: Un- und Angelernte, Facharbeiter, Vorarbeiter und Meister; sowie drei Gruppen von Angestellten: einfache (ausführende) Angestellte, mittlere (qualifizierte) Angestellte und hochqualifizierte und/oder leitende Angestellte.

Soziallage

Ein erstes interessantes Ergebnisse bringt bereits die Frage nach der Meinung der Befragten zu Klassen- und Schichtenstrukturen: Bipolare Vorstellungen (Arme – Reiche) wurden so gut wie nicht vertreten; die ganz überwiegende Mehrzahl der Befragten hatte ein „Oben-Mitte-Unten-Schema“ vor Augen. Nur die höheren/leitenden Angestellten hatten etwa zur Hälfte andere, teils differenziertere Vorstellungen oder verneinen das Vorhandensein von Klassen oder Schichten.12

In dieser Sozialstruktur stufte sich eine deutliche Mehrheit der Un- und Angelernten, Facharbeiter und Vorarbeiter selbst als Mitglied der Arbeiterklasse/-schicht ein; demgegenüber sahen sich Meister, einfache und mittlere Angestellte als Teil einer Mittelschicht; während sich höhere/leitende Angestellte ausdrücklich als Mitglieder der „oberen Mittelschicht“, z.T. auch als Mitglieder der Oberschicht fühlten.13

Lebenschancen

Zum Zeitpunkt der Befragung machten sich 60,2% der Un- und Angelernten und 32,3% der Facharbeiter große Sorgen um den eigenen Arbeitsplatz.14

Der Grad der Zufriedenheit und das politische Interesse korrelieren stark mit der Berufsposition: Am unzufriedensten waren die un- und angelernten Arbeiter; bei allen anderen Gruppen gaben jedoch durchgehend mehr als Zweidrittel an, in den verschiedenen Lebensbereichen15 „sehr zufrieden“ oder „recht zufrieden“ zu sein.16 91,0% der Un- und Angelernten gaben an, im Freundes- oder Bekanntenkreis nie oder eher selten über politische oder gesellschaftliche Themen zu diskutieren, während 71,4% der höheren/leitenden Angestellten angaben, dies oft oder sehr oft zu tun.17

Einstellungen

Der hohe Stellenwert, den die Arbeit im Denken der Arbeiter und Angestellten nach wie vor spielt, wird in der großen Zustimmung zu der Aussage „Meine Arbeit ist mir wichtig und macht mir Spaß.“ deutlich: Jeweils mehr als Zweidrittel der Facharbeiter, Vorarbeiter, Meister, einfachen und mittleren Angestellten stimmten zu.18 Dabei wollen alle Gruppen – mit Ausnahme der un- und angelernten Arbeiter – eine gute Arbeit abliefern und empfinden einen gewissen Stolz auf ihre Arbeitsleistung.19 Andererseits empfindet eine große Mehrheit der Arbeiter und der einfachen Angestellten, dass ihre Arbeitsleistung in finanzieller Hinsicht nicht richtig gewürdigt wird.

Insgesamt ist zum einen auffallend, dass die Antworten der Un- und Angelernten sich bei den meisten Fragen deutlich von den Antworten der anderen Berufsgruppen unterscheiden. Zum anderen zeigen sich häufig gleiche Einstellungen bei Facharbeitern, Vorarbeitern und einfachen Angestellten, während es zwischen den einfachen Angestellten einerseits und den mittleren und höheren/leitenden Angestellten andererseits keine ausgeprägten Gemeinsamkeiten gibt.

Weber-Menges zieht als Fazit,

„dass vor allem bei Un- und Angelernten sowie Facharbeitern größtenteils ein Lohnarbeiterbewusstsein fortbesteht, dessen Konturen nach wie vor durch die Interessenwidersprüche von Kapital und Arbeit, jedoch auch durch Interessengegensätze zwischen ihnen und den Vorgesetzten geprägt werden. Von einer durchgängigen Auflösung arbeiterspezifischer Merkmale im Bewusstsein von Produktionsarbeitern kann daher […] nicht die Rede sein.“20

3. Konstanten und Veränderungen im Arbeiterbewusstsein

Abb.: Studien im Überblick

ErhebungszeitAutorInnenTitelUntersuchungsgruppe und Methode
1953-1954Popitz, Heinrich / u.a.Das Gesellschaftsbild des Arbeiters600 Arbeiter eines Hüttenwerkes; leitfadengestützte Interviews
1965-1967Kern, Horst / Schumann, MichaelIndustriearbeit und Arbeiterbewußtsein981 Arbeiter in neun Industriebetrieben; Experteninterviews, Betriebsbesichtigungen; Arbeitsplatzbeobachtung; halbstandardisierte und Intensivinterviews
1971/1972Herding, Richard / Kirchlechner, BerndtLohnarbeiter-interessen: Homogenität oder Fraktionierung1.843 gewerkschaftlich organisierte, männliche Industriearbeiter in Großbetrieben mit mittlerer und höherer Qualifikation und männliche Angestellte in Verwaltungen der Industrie; standardisierte Fragebögen
1974Kudera, Werner / u.a.Gesellschaftliches und politisches Bewußtsein von Arbeitern183 verheiratete, männliche Industriearbeiter aus zwei Großbetrieben; qualitative Interviews
1978Herkommer, Sebastian / u.a.Gesellschafts-bewußtsein und Gewerkschaftenüber 100 Industriearbeiter und -angestellte aus der westdeutschen Großindustrie; außerdem Betriebsratsmitglieder und Vertrauensleute sowie je eine Gruppe von Industrielehrlingen und Frauen aus dem HBV-Bereich Gruppendiskussionen
2000Bergmann, Joachim / u.a.Krisen und Krisenerfahrungen38 Teilnehmer an IG Metall-Lehrgängen leitfadengestützte Interviews
2000-2001Weber-Menges, Sonja“Arbeiterklasse” oder Arbeitnehmer?1.868 Arbeiter und Angestellte in 17 Industriebetrieben; standardisierte Fragebögen

3.1 Konstanten

Vergleicht man diese Untersuchungsergebnisse nun mit den genannten älteren Untersuchungen21 so sind einige Konstanten der Einstellungen und des Bewusstseins der Lohnabhängigen erkennbar:

  1. Die objektive Existenzunsicherheit ihrer Lebenssituation22 ist den Lohnabhängigen bewusst. Es ist daher nur folgerichtig, dass die Sicherheit des Arbeitsplatzes für sie die zentrale Frage ist.
  2. Mehrere Untersuchungen stoßen auf ein „Kollektivbewusstsein“, das Popitz u.a. folgendermaßen charakterisieren:

„Die Arbeiterschaft hat etwas zu bieten, das dem Kapital – dem ‚toten Kapital’ – zumindest ebenbürtig, wenn nicht überlegen ist: die Arbeit – die ‚menschliche Arbeit’. Sie wird verstanden als körperliche Arbeit, das heißt diejenige menschliche Tätigkeit, die am sinnfälligsten ‚Arbeit’ ist, als produktive Arbeit, das heißt als unmittelbar wertschaffende Leistung.“23

  1. Einerseits wird der Arbeitsalltag vieler Arbeiter und Angestellten zwar nach wie vor durch die „objektiv geringen Identifikations- und Partizipationsmöglichkeiten24 geprägt. So kann es nicht verwundern, dass eine große Zahl Lohnabhängiger keine positive Beziehung zum Inhalt ihrer beruflichen Tätigkeit hat, sondern die Arbeit als Last und notwendiges Übel erfahren wird. Andererseits hat die Arbeit im Denken der Arbeiter und Angestellten nach wie vor einen hohen Stellenwert.
  2. Das System der Lohnarbeit ist im Bewusstsein so stark verankert, dass es trotz aller Kritik im einzelnen, grundsätzlich nicht in Frage gestellt wird. So stellten Kudera u.a. fest, dass „Vorstellungen, die über die Artikulation der eigenen aufgezwungenen Situation hinausgehen und den Aufbau der Gesellschaft insgesamt reflektieren, […] wenig präsent [sind]“.25
  3. Charakteristisch für die Mehrheit der Lohnabhängigen sind ihre beschränkten Möglichkeiten der Beteiligung an relevanten politischen und ökonomischen Entscheidungen, ihr „pragmatisches Einverständnis26 mit der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung, und nur geringes Interesse an politischen Fragen.
  4. Wirklich unzufrieden mit ihrer Lage sind allein die un- und angelernten Arbeiter.

3.2 Widersprüche und mögliche Veränderungen

Widersprüchlich sind die Ergebnisse der Untersuchungen z.B. inwieweit die Vorstellung einer dichotomischen Struktur der Gesellschaft als Konstante gewertet werden kann. Popitz u.a. fanden sie bei allen Arbeitern, mit denen sie gesprochen haben und die überhaupt ein Gesellschaftsbild in dem von ihnen definierten Sinne entwickelt hatten.27 Auch Kudera u.a. bemerkten diese Vorstellung „allenthalben“28. Demgegenüber hatte die ganz überwiegende Mehrzahl der von Weber-Menges Befragten ein „Oben-Mitte-Unten-Schema“ vor Augen und wurden bipolare Vorstellungen so gut wie nicht vertreten.29

Eine deutliche Mehrheit der Un- und Angelernten, Facharbeiter und Vorarbeiter stuft sich selbst als Mitglied der Arbeiterklasse/-schicht ein. Woraus Weber-Menges das Fazit zieht:

„Aus der Vorstellungswelt der Un- und Angelernten, Facharbeiter und Vorarbeiter war die Arbeiterschicht durchaus nicht verschwunden, denn ihre überwiegende Mehrheit rechnete sich ihr nach wie vor zu.“30

Dies unterscheidet sich auffallend von der Erhebung von Herding / Kirchlechner, derzufolge sich Anfang der 1970er Jahre nur 37 % der Ungelernten und 31 % der Arbeiter zur Arbeiterklasse / Unterschicht zählten.31

4. Fazit:

Die Hoffnung, Krisen würden die Herausbildung von Klassenbewusstsein fördern, ist also trügerisch.32 Tatsächlich sind es zwar häufig Krisenprozesse, die Klassengegensätze auch für die Beherrschten erfahrbar machen. „Ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen Krisen- und Klassenbewusstsein existiert jedoch nicht.“33

Tatsächlich kann nicht aus objektiven Strukturveränderungen unmittelbar auf die Erhöhung des Klassenbewusstsein oder die politische Organisiertheit geschlossen werden. Die Herausbildung von Klassenbewusstsein ist eben keine „Determinante aus der objektiven Stellung“.34

Zwar sind bei Einstellungen und Bewusstsein Lohnabhängiger vielfältige Anknüpfungspunkte für linke Politik vorhanden. Die arbeitenden Klassen sperren sich jedoch gegen einfache „Anrufungen“. Voluntaristische Konzepte, die dies ignorieren, sind zum Scheitern verurteilt.

Literaturliste

Bell, Hans Günter: Die in Vergessenheit geratene Arbeiterfrage; in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 62 (2005), S. 25-35

Bell, Hans Günter: Arbeiterstudien und Klassenbewusstsein; in: spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 147 (2006), S. 46-50

Bergmann, Joachim / Bürckmann, Erwin / Dabrowski, Hartmut: Krisen und Krisenerfahrungen. Einschätzungen und Deutungen von Betriebsräten und Vertrauensleuten; Hamburg: VSA-Verlag, 2002

Deppe, Frank: Das Bewußtsein der Arbeiter. Studien zur politischen Soziologie des Arbeiterbewusstseins, Köln: Pahl-Rugenstein Verlag, 1971

Engels, Friedrich: Zur Lage der arbeitenden Klasse in England; Berlin (DDR): Dietz Verlag, 1957 [1845]

Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Müller-Hilmer, Rita / TNS Infratest Sozialforschung (Bearb.): Gesellschaft im Reformprozess; Bonn, (Vortragsmanuskript) 2006

Herding, Richard / Kirchlechner, Berndt: Lohnarbeiterinteressen: Homogenität und Fraktionierung. Eine empirische Untersuchung bei westdeutschen Arbeitern und Angestellten über soziale Ungleichheit und materielle Ansprüche; Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 1979

Herkommer, Sebastian / u.a.: Gesellschaftsbewußtsein und Gewerkschaften. Arbeitsbedingungen, Lebensverhältnisse, Bewußtseinsänderungen und gewerkschaftliche Strategie von 1945 bis 1979; Hamburg: VSA-Verlag, 1979

Kern, Horst / Schumann, Michael: Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein; Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1985 [1970]

Köcher, Renate: Die Distanz zwischen Bürgern und Wirtschaft wächst; in: FAZ vom 20.12.2006

Kudera, Werner / u.a.: Gesellschaftliches und politisches Bewußtsein von Arbeitern. Eine empirische Untersuchung; Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, 1979

Mangold, Werner: Gruppendiskussion; in: König, René (Hg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 1, Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, 1962, S. 209-225

Markard, Morus: Die Fragwürdigkeit der Skalierung von Arbeiterbewusstsein; in: Braun, Karl-Heinz / u.a. (Hg.): Kapitalistische Krise, Arbeiterbewußtsein, Persönlichkeitsentwicklung, Köln: Pahl-Rugenstein Verlag, 1980, S. 81-85

Peter, Lothar: Gibt es in den Betrieben noch Solidarität?, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr.15 (1993), S. 165-173

Popitz, Heinrich / u.a.: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters; Tübingen: J.C.B. Mohr, 1977 (5. Aufl) [1957]

Weber-Menges, Sonja: “Arbeiterklasse” oder Arbeitnehmer? Vergleichende empirische Untersuchung zu Soziallagen und Lebensstilen von Arbeitern und Angestellten in Industriebetrieben; Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004

1 Vgl. Engels, Lage, 1957 [1845], 229

2 Vgl. Mangold, Gruppendiskussion, 1962; Markard, Fragwürdigkeit, 1980.

3 Deppe, Bewußtsein, 1971, 110.

4 Friedrich-Ebert-Stiftung, Gesellschaft, 2006.

5 Köcher, Distanz, 2006.

6 Bergmann / u.a, Krisen, 2002, 19.

7 Bergmann / u.a, Krisen, 2002, 28.

8 Bergmann / u.a, Krisen, 2002, 18.

9 Bergmann / u.a, Krisen, 2002, 36.

10 Bergmann / u.a, Krisen, 2002, 45 ff.

11 Weber-Menges, Arbeiterklasse, 2004; vgl. auch: Bell, Vergessenheit, 2006.

12 Vgl. Weber-Menges, Arbeiterklasse, 2004, Tab. 3.10, 122.

13 Vgl. Weber-Menges, Arbeiterklasse, 2004, Tab. 3.11, 123.

14 Vgl. Weber-Menges, Arbeiterklasse, 2004, Tab. 4.18, 205 f.

15 Allgemeine Lebenszufriedenheit, Arbeit, Freizeit, Lebensstandard, Wohnung, Gesundheit.

16 Vgl. Weber-Menges, Arbeiterklasse, 2004, Tab. 4.22, 224 f. Einzige Ausnahme ist die Unzufriedenheit von 48,3% der Facharbeiter mit ihrer Arbeit.

17 Vgl. Weber-Menges, Arbeiterklasse, 2004, Tab. 5.5, 284.

18 Vgl. Weber-Menges, Arbeiterklasse, 2004, Tab. 5.1, 262.

19 Vgl. Weber-Menges, Arbeiterklasse, 2004, Tab. 5.2, 263 f.

20 Weber-Menges, Arbeiterklasse, 2004, 272; anderer Auffassung: Peter, Betrieben, 1992.

21 Popitz / u.a., Gesellschaftsbild, 1957; Kern / Schumann, Industriearbeit, 1970; Herding / Kirchlechner, Lohnarbeiterinteressen, 1979; Kudera / u.a., Bewußtsein, 1979; Herkommer / u.a., Gesellschaftsbewußtsein, 1979. Alle diese Untersuchungen klammern ausländische ArbeitnehmerInnen aus der Untersuchungsgruppe aus. Vgl. auch: Bell, Arbeiterstudien, 2006.

22 Vgl. Engels, Lage, 1957, 344: „Die Unsicherheit der Lebensstellung, die Notwendigkeit, vom Lohn aus der Hand in den Mund zu leben, kurz das, was sie zu Proletariern macht.“

23 Popitz / u.a., Gesellschaftsbild, 1957, 238 (Herv. im Original); vgl. Herkommer / u.a., Gesellschaftsbewußtsein, 1979, 54.

24 Deppe, Bewußtsein, 1971, 112.

25 Kudera / u.a., Bewußtsein, 1979, 353.

26 Kudera / u.a., Bewußtsein, 1979, 373.

27 Vgl. Popitz / u.a., Gesellschaftsbild, 1957, 237.

28 Kudera / u.a., Bewußtsein, 1979, 353.

29 Vgl. Weber-Menges, Arbeiterklasse, 2004, Tab. 3.10, 122.

30 Weber-Menges, Arbeiterklasse, 2004, 377.

31 Vgl. Herding / Kirchlechner, Lohnarbeiterinteressen, 1979, 270.

32 So unterstellten z.B. Sebastian Herkommer u.a. 1979 eine aufklärende Wirkung der wirtschaftlichen Krise auf das Bewusstsein der von ihnen untersuchten Industriearbeiter und -angestellten und erwarteten, dass vermehrte gewerkschaftliche Aktivitäten und eine Politisierung der Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeit und Kapital die Folge sein würden. Vgl. Herkommer / u.a., Gesellschaftsbewußtsein, 1979, v.a. 191 ff.

33 Dörre, Neubildung, 2003, 22.

34 Jung, Grundlagen, 1973, 16.

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