Tagung „Aktualität der marxistischen Klassentheorie“
Erschienen in spw 146
am 22. Oktober 2005 in Köln
Karl Marx in Siegerpose auf der Titelseite des Spiegel – man reibt sich verwundert die Augen, sollte der Marxismus wieder en vogue sein? Diese Interpretation ist zweifellos übertrieben, aber dennoch ist nicht zu übersehen, dass das Interesse an der marxistischen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie zugenommen hat.
So folgten denn auch 60 Interessierte der Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW, des Sozialistischen Forums Rheinland (Verein zur Förderung der politischen Kultur e.V.) und der Zeitschrift marxistische Erneuerung zu einer Tagung über die Aktualität der marxistischen Klassentheorie.
In seinem Eröffnungsvortrag verwies Frank Deppe, Professor für Politikwissenschaften an der Philipps-Universität in Marburg, auf die Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen seit den späten 70er Jahren als Folge der krisenhaften Herausbildung einer neuen Formation des Kapitalismus. Verlierer dieser Entwicklung seien die Industriearbeiter und ihre Gewerkschaften. Ihr Selbstbewusstsein sei durch Angst vor Arbeitslosigkeit, Übergreifen der Prekarität und durch Niederlagen in Abwehrkämpfen massiv beeinträchtigt.
Die Klassenanalyse in der Tradition des Marxismus sei aufgrund theoretischer Defizite nur unzureichend dazu in der Lage, diese Situation angemessen zu analysieren. Als solche Defizite nannte Deppe die Verengung auf das Kriterium der Lohnarbeit; die mangelnde Vermittlung zwischen Strukturanalyse und Handlungstheorie und vereinfachende Hypothesen über den Zusammenhang von Klassenlage und Klassenbewusstsein; die Vernachlässigung der Rolle des Staates; und die Interpretation des Prozesses der Klassenstrukturierung allein als Bildung zweier antagonistischer Blöcke.
Dennoch sei der Rekurs auf die marxistische Klassenanalyse unabdingbar, um die neuen Spaltungsprozesse angemessen zu begreifen, denn der auf Marx zurückgehende Ansatz der Kapitalismuskritik zeichne sich – so Deppe – dadurch aus, dass er den Zusammenhang von ökonomischen Basisprozessen, politischer Regulation, Sozialstrukturveränderungen und der Relevanz sozialer und politischer Kämpfe zu begreifen vermöge und die Kritik der herrschenden Verhältnisse immer auch auf die Möglichkeiten ihrer Veränderungen beziehe.
Die folgenden Vorträge griffen die von Deppe benannten Defizite der marxistischen Klassentheorie aus je eigenen Blickwinkeln auf. Aus Sicht von Olaf Groh-Samberg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Münster, ist eine Klassentheorie dann produktiv, wenn sie sich in empirischen Forschungen fruchtbar anwenden und bestätigen lässt.
Um eine solche Klassentheorie zu begründen plädiert er für eine Integration dreier konkurrierender Ansätze: a) des neoweberianischen, der die klassenspezifische Ungleichheit von Lebenschancen untersucht (John Goldthorpe); b) des neomarxistischen, der sich dem strukturellen Klassenantagonismus und der Reproduktionsmechanismen von Herrschaft widmet (Erik Olin Wright); und c) der kulturalistischen Klassentheorie Pierre Bourdieus, die sich für den klassenspezifischen Habitus und lebensweltliche Klassenmilieus interessiert. Sie schlössen sich – so Groh-Samberg – nicht kategorisch aus, sondern liessen sich in einen produktiven theoretischen Zusammenhang stellen.
Ben Diettrich, Soziologe und Jurist aus Hamburg, arbeitete in seinem Vortrag heraus, dass die „ArbeiterInnen des Kapitals“ – entgegen der Auffassung orthodoxer KlassentheoretikerInnen – strukturell keine einheitliche Klasse darstellten, sondern in Klassenfraktionen und -segemente unterteilt seien.
Angesichts der sozialen Kräfteverhältnisse müsse man MigrantInnen, die um ihre BürgerInnenrechte kämpfen, politisch genauso ernst nehmen, wie Kernbelegschaften in der Auseinandersetzung um die Verdichtung ihrer Arbeitsabläufe. Auf der Suche nach einer gemeinsamen Perspektive sei zu fragen, wie sich die unterschiedlichen Klassenfraktionen und -fragmente jeweils unterstützen könnten, denn eine erfolgreiche Klassenpolitik sei nur als Bündnis unterschiedlichster, teilweise antagonistischer Interessen möglich.
Zwar bemühten sich Gewerkschaften in ersten Ansätzen darum, auf die veränderten Produktionsverhältnisse einzugehen, die strategischen Veränderungen reichten jedoch noch nicht weit genug. Diettrich schlug daher Kampffelder einer gewerkschaftlichen Politik vor, welche in der aktuellen Defensive eine Auffangposition für die gewerkschaftliche Arbeit darstellen könnten und die Prekarisierung in den Blick nehmen.
Abschließend stellte Margareta Steinrücke, Referentin für Frauenforschung an der Arbeitnehmerkammer Bremen, die Ergebnisse eines Forschungsprojekt zum Verhältnis von Klasse und Geschlecht vor.1 Dieses ging der Frage nach, was die Menschen mehr verbindet bzw. trennt: das Geschlecht oder die Klassenzugehörigkeit. Dabei bezog es sich auf Bourdieus Theorie des Sozialen Raums und seine Unterscheidung zwischen dem kulturellen, dem sozialen und dem ökonomischen Kapital.
Die vorgestellten Ergebnisse der Interviews mit Paaren zeigten – neben der erstaunlichen sozialen Homogenität dieser Paare – dass die Geschlechtsunterschiede weitgehend von den Klassenunterschieden überlagert und dominiert werden. Die Gemeinsamkeiten und Affinitäten zwischen Mann und Frau innerhalb einer Klasse scheinen größer als die zwischen Frauen (oder Männern) über die Klassengrenzen hinweg.
Damit bestätigt sich die Klassenhypothese, derzufolge die Klassenzugehörigkeit, unabhängig von bzw. quer zum Geschlecht, die Lebenschancen und Verhaltensmöglichkeiten entscheidend bestimmt. Bestätigt wurde zudem auch die Klassengeschlechtshypothese, derzufolge jede Klasse und Klassenfraktion ihre je eigene Vorstellung und Realisierungsform von Weiblichkeit und Männlichkeit hat
Von einer Gesellschaft ohne Klassenunterschiede lasse sich im Lichte dieser Ergebnisse jedenfalls schwerlich reden – so Steinrücke. Ebenso wenig könne man jedoch sagen, dass die geschlechtliche Ungleichheit bedeutungslos geworden wäre.
Zwar fanden nicht alle Vorträge die Zustimmung aller Anwesenden, wichtig ist jedoch, dass nach langen Jahren, in denen die Klassentheorie in den deutschen Sozialwissenschaften nur ein Randdasein geführt hat, nach und nach der Diskussionsfaden der 1970er Jahre wieder aufgenommen wird. Um damalige Fehler und Schwächen nicht zu wiederholen ist ein offener und differenzierter Forschungszugang erforderlich. Hierzu wollte die Kölner Tagung einen Beitrag leisten. Sie hat einen Einblick in den Stand der wissenschaftlichen Diskussion geben können und eine Ahnung davon vermittelt, wie groß die Aufgabe ist. Für die Veranstalter wird dies nicht die letzte Zusammenarbeit zu diesem Thema gewesen sein. Und wer weiß, vielleicht sitzt ja bei der nächsten Tagung auch die spw mit am Tisch.
Einige Beiträge wurden im Heft Nr. 65 (2006) der Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung dokumentiert.
Interessierte wenden sich bitte an: Z-Vertrieb, Postfach 50 09 36, 60397 Frankfurt a.M., E-Mail: redaktion@zme-net.de
1 Vgl. Frerichs, Petra: Klasse und Geschlecht. Ergebnisse eines empirisch-theoretischen Forschungsprojekts; in: spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 91 (1996), S. 36-39.