Die Klassenfrage neu stellen.
Erschienen in SoFoR-Info 64
50.000 Menschen sind zum Hambacher Forst gefahren, um einen Ausstieg aus der Kohleverstromung zu fordern, vielerorts protestieren Mieter*innen gegen Mietwucher und Verdrängung, in München und Düsseldorf bringen neue Polizeigesetze Zehntausende auf die Straße, und nicht zu vergessen die Arbeitskämpfe bei so unterschiedlichen Firmen wie Ryanair, Amazon oder Halberg Guss. Höhepunkt der Proteste ist sicherlich die „unteilbar“-Demo gewesen, an der sich in Berlin 240.000 Menschen beteiligt haben. Einerseits ist also viel Bewegung im Land, andererseits zieht die AfD in den Umfragen an der SPD vorbei und DIE LINKE stagniert bei 10 Prozent.
In dieser Situation veröffentlicht Bernd Riexinger, Vorsitzender der LINKEN, ein Buch über „neue Klassenpolitik“. Mit diesem Buch möchte er die Debatte um linke Klassenpolitik beleben. Eine Belebung, die dringend notwendig ist, sind die Klassengegensätze doch auch von vielen Linken jahrzehntelang geleugnet worden. Nun jedoch werden sie durch die von der neoliberalen Politik verursachten sozialen Verwüstungen wieder an die Oberfläche gespült – so Riexinger.
Riexinger schreibt aus der Perspektive von jemandem, der sein ganzes politisches Leben mit den vielfältigen Kämpfen, Niederlagen und auch Erfolgen der Arbeiter*innen-Bewegung eng verbunden ist, zunächst als aktiver Gewerkschafter und nun seit über sechs Jahren als Co-Vorsitzender der LINKEN.
Er beschreibt anschaulich und zutreffend die Umbrüche der Lohnarbeit und die Prekarisierung und Aufspaltung der Arbeiter*innenklasse. Er widerspricht aber auch entschieden der Ansicht, dass Fragen der Identitäts- und der Klassenpolitik in einem Gegensatz zueinander stehen. Den Vorwurf, die Linke habe sich zu sehr den sogenannten Minderheitenfragen ethnischer, geschlechtlicher und sexueller Identität zugewandt und dabei Klassenfragen vernachlässigt, weist er zurück. Ein Blick auf den letzten Bundestagswahlkampf der LINKEN und auf die aktuellen Kampagnen der Partei zu Wohnen und zu Pflege stellt klar, dass diese Kritik nicht zutrifft. Er weist die Kritik aber auch inhaltlich zurück und betont, dass die Lohnabhängigen als „ganze Menschen“ in den Blick zu nehmen sind. In Zeiten eines „Kulturkampfes“ von rechts ist es eine zentrale Aufgabe der Linken, die verschiedenen Emanzipationskämpfe der Menschen zu unterstützen und die erreichten emanzipatorischen Fortschritte zu verteidigen.
Praktisches Klassenhandeln
Die Linke steht – so Riexinger – vor der Anstrengung einer zeitgemäßen Klassenanalyse, um den verbindenden Prozessen zwischen den verschiedenen Milieus der Arbeiter*innenklasse auf die Spur zu kommen. Eine solche Klassenanalyse ist für ihn keine akademische Übung. Wer über Klassen spricht, der spricht nicht nur über Sozialstruktur, der spricht vor allem über praktisches Handeln. Und dieses praktische Klassenhandeln hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten stark verändert: Immer mehr Arbeitskämpfe finden im Dienstleistungssektor statt. Die Beteiligten sind weiblicher und migrantischer. Und es gibt mehr Streiks von Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen, im Niedriglohnbereich. Aber ebenso beteiligen sich Angestellte häufiger an Arbeitsniederlegungen, als dies früher der Fall war.
Die vielfältige Spaltung, Fragmentierung und Prekarisierung, die Beschäftigte wie Erwerbslose erleben, wird von dem Menschen ganz verschieden verarbeitet. Sozialdarwinistisches Leistungsdenken und Konkurrenzdruck sind Nährboden für rechte Ideologie und bieten Ansatzpunkte für die Umdeutung der sozialen Frage von einer Klassenfrage zu einer nationalen Frage.
Riexinger sieht die Aufgabe, eine Klassenpolitik zu entwickeln, die gemeinsame Interessen der verschiedenen Beschäftigtengruppen wie auch der Erwerbslose herausarbeitet und Bündnisse schmiedet. Wichtig hierfür ist die Benennung gemeinsamer Gegner. Um seine Interessen gegen die Klasse durchsetzen, die über die ökonomische Macht verfügt und sie trefflich zu nutzen weiß, um politische Macht auszuüben, braucht es einen langen Atem und die „spürbare Rauflust, es mit den Reichen und Vermögenden aufzunehmen“.
Das Ganze in den Blick nehmen
Als Thema einer solchen verbindenden Klassenpolitik nennt Riexinger ein neues Normalarbeitsverhältnis. Der gemeinsame Kampf sollte zum Ziel haben, das normal werden zu lassen, was in einem reichen Land selbstverständlich sein sollte: sichere, planbare und unbefristete, tariflich bezahlte, sozial abgesicherte, selbstbestimmtere und demokratisch mitgestaltete Arbeit für alle.
Beseitigung der Wohnungsnot, gute Erziehung und Bildung und Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs sind weitere Themen, die Riexinger als Bausteine einer zusammenführenden linken Strategie aufführt.
Diese Forderungen sind aber notwendigerweise mit einem gesellschaftlichen Zukunftsprojekt zu verbinden. Es geht darum, eine andere Regulierung und Gestaltung des Öffentlichen durchzusetzen und dem Kapital Bereiche zu entziehen, die bisher warenförmig organisiert sind. Der Kampf für konkrete soziale, ökologische, demokratische und kulturelle Verbesserungen – so Riexingers Credo – muss mit Perspektiven verknüpft werden, die über den Kapitalismus hinausgehen.
Zwei kritische Anmerkungen
In all dem stimme ich Riexinger zu. Aber zwei kritische Anmerkungen möchte ich doch machen: Riexinger betont zwar, dass es für die Linke nicht nur um Umverteilung gehen kann, sondern auch um die Art und Weise, wie die Ökonomie organisiert ist. Hier bleibt sein Buch aber eher schwach.
Und seine Einschätzung, dass „die Kämpfe gegen rassistische Gewalt und Gewalt gegen Frauen, für das Bleiberecht für alle Verfolgten und für geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung … Teil des Klassenkampfes [sind]“, teile ich in dieser Absolutheit nicht. Er überdehnt den Klassenbegriff, wenn er zu viel unter ihn subsummiert. Der Klassenbegriff ist dort stark, wo es um Produktions- und Arbeitsbeziehungen und die sich aus diesen ergebenden Herrschaftsverhältnisse geht. Kämpfe gegen rassistische Gewalt und für sexuelle Selbstbestimmung aber lassen sich hierauf nicht eingrenzen.
Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit
Riexinger fordert eine Kapitalismuskritik ein, die auf der Höhe der Zeit ist. Das heißt für ihn, dass sie mit den Erfahrungen der tatsächlichen Bewegungen und Kämpfe verknüpft sein muss. Man merkt dem Buch von der ersten Seite an, dass sein Autor aus eben diesen Erfahrungen schöpft und dass er seit Jahrzehnten nah dran an diesen Kämpfen ist. So ist kein akademisches, abgehobenes Buch entstanden, sondern ein Buch, dass vom Alltag der Beschäftigten wie der Erwerbslosen ausgeht. Es sind ihm viele Leser*innen zu wünschen.
Bernd Riexinger
Neue Klassenpolitik – Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen
160 Seiten, 14,80 Euro
VSA: Verlag Hamburg 2018