Arbeiterklasse in Deutschland

Arbeiterklasse in Deutschland

Erschienen in Z 83

Bespechung von:

Hans-Günter Thien: Die verlorene Klasse – ArbeiterInnen in Deutschland, Münster, 2010

„Macht es eigentlich Sinn, heute noch über die Arbeiter zu schreiben?“ [1] – mit dieser Frage beginnen die beiden französischen Soziologen Stéphane Beaud und Michel Pialoux ihr Buch über „Die verlorene Zukunft der Arbeiter“.

Seit dem Erscheinen dieser Studie im Jahr 1999 hat die Aufmerksamkeit für die Arbeiter- und die Klassenfrage deutlich zugenommen. Ein aktuelles Beispiel ist etwa eine gemeinsame Tagung der Sektionen „Soziologische Theorie“ und „Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse“ der Gesellschaft Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Mai 2010 in Essen[2]. Diese Tagung ist ein zweifacher Hinsicht beispielhaft: Einerseits ist es der akademischen Soziologie nicht mehr möglich, den Klassenbegriff zu meiden, andererseits wird aber auch klar, dass in der Regel nicht der marxistische Klassenbegriff verwendet wird. Von „Klassen“ wird hier von Vielen allenfalls in der Tradition Max Webers und nur mit Bezug auf unterschiedliche berufliche Stellungen oder gar nur auf unterschiedliche Einkommen gesprochen.[3] Doch, immerhin redet die deutsche Soziologie wieder von Klassen, Klassenkonflikten und hin und wieder sogar von Ausbeutung, die mehr meint als moralische Empörung über skandalös geringe Löhne oder unerträglich schlechte Arbeitsbedingungen.

Auch bei der Partei DIE LINKE. wird über Klassen und die Klassengesellschaft diskutiert. So wird im Entwurf der Programmkommission für ein Programm der Partei DIE LINKE denn zunächst auch behauptet, „dass wir in einer Klassengesellschaft leben“[4], später jedoch nur an einer Stelle tatsächlich der Begriff „Klasse“ verwendet: nämlich bezogen auf die „herrschenden Klasse“. Die Frage drängt sich daher auf, ob wir nach Ansicht der LINKEN. in einer Klassengesellschaft (fast) ohne Klassen leben.[5] Zudem wird als Beweis für das Vorhandensein einer Klassengesellschaft nur auf die „zunehmend ungleiche[..] Verteilung von Einkommen und Vermögen“ hingewiesen. Nicht nur die akademische Soziologie, sondern auch die parteipolitisch organisierten Sozialisten/innen tun sich also mit dem Klassenbegriff noch schwer.

Ein zeitgemäßes, weil notwendiges Buch, und doch nicht zeitgemäßes Buch

Daher horschte der an (marxistischer) Klassenanalyse Interessierte auf, als aus Münster unter dem Titel „Die verlorene Klasse – ArbeiterInnen in Deutschland“ ein Buch angekündigt wurde, in dem „in der gründlichen Auseinandersetzung mit Vertretern der soziologischen Zunft […] das Spannungsfeld zwischen der Lage von ArbeiterInnen, ihrer Klassensituation, deren Veränderungen und dem Handeln als (potenzielle) Mitglieder einer Klasse […] ins Blickfeld“ gerückt wird. (Umschlagtext)

Wer nun voller Erwartung das so angepriesene Buch erwirbt, wird zunächst vermutlich enttäuscht sein: handelt es sich doch nicht um die erwartete aktuelle Monographie zum Thema, sondern um eine Sammlung älterer, zwischen 1985 und 2006 erstmals veröffentlichter Aufsätze des Münsteraner Soziologen und Verleger des „Westfälischen Dampfbootes“ Hans-Günter Thien. Dabei ist keiner der Aufsätze eine Rarität, an die man nicht mehr kommen könnte und die erst durch diese Neuauflage wieder zugänglich gemacht würden. Alle Sammelbände, denen die Aufsätze entnommen sind, sind ohne Probleme in Universitätsbibliotheken ausleihbar oder im Internet preiswert zu erwerben. Man fragt sich daher, warum nun gerade diese Aufsätze und warum sie nun gerade jetzt nochmals veröffentlicht werden.

Hinzu kommt, dass die Analyse sich nicht – wie ausdrücklich angekündigt – „primär […] auf ArbeiterInnen“ (8) beziehen. Zwar bildet die Lage von Arbeiter/innen in Deutschland einen Schwerpunkt mehrere Aufsätze, es geht aber um sehr viel mehr Themen. Es schadet sicherlich nie, nochmals die schöne Formel G – W – G’ erläutert zu bekommen; (30 ff.) der xte Nachweis, welche Fehlannahmen und unhaltbaren Interpretationen Ulrich Becks Bestseller „Risikogesellschaft“ zu Grunde liegen, ist interessant zu lesen; und auch der Verriß von zwei Büchern der Modeautoren Michael Hardt und Antonio Negri[6] ist gelungen. Allein: Über die Lage von Arbeiter/innen im Deutschland des Jahres 2010 habe ich nach dieser Lektüre nichts Neues erfahren.

Kurzum: „Die Verbindung von einer auf der Höhe der Zeit befindlichen Kapitalismustheorie mit einer entsprechenden Klassenanalyse“ (8, Herv. GB) mit diesen bis zu 25 Jahre alten Texten leisten zu wollen, überzeugt nicht. Wer im Jahr 2010 eine Neuerscheinung mit dem Titel „Arbeiter/innen in Deutschland“ erwirbt, der erwartet wohl zu Recht einen aktuellen Beitrag zur Debatte, und der erwartet vor allem einen Beitrag zu dieser „verlorenenen Klasse“.

Gegen plakative Reminiszenzen

Doch sieht man von diesen Unzulänglichkeiten und enttäuschten Erwartungen ab und vertieft sich in die Aufsätze, zieht man dennoch Einiges an Gewinn. Einer der zentralen Aspekte, den Thien herausarbeitet, ist die innere Vielschichtigkeit der Arbeiterklasse – und zwar nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der oftmals verklärten Vergangenheit. Notwendigerweise räumt er hier mit dem Mythos auf, es habe früher einmal „eine ‚natürliche’ Hochzeiten der Klasse“ (130) gegeben. Er kritisiert den Mainstream der Sozialwissenschaften, der sich nicht um eine „präzise historische Rekonstruktion“ bemüht, sondern lieber durch „eine möglichst phantasievolle Vokabelschöpfung“ zu glänzen versucht, (8) und der die Vergangenheit in der benannten Form entstellt, „um im Kontrast dazu die heutige Situation mit ihren bekannten internen Differenzierung der ArbeiterInnenschaft als eine völlig neue im Sinne des deshalb folgerichtigen Wegschmelzens von Klassenmilieus zu plaubilisieren“. (130)[7]

Thien betont demgegenüber, dass der Arbeiter des 19. Jahrhunderts ebenso ein „Konstrukt“ sei, wie der des 20. Jahrhunderts (107) und dass es eine „Einheit der Klasse“’ nie gegeben hat. (130)

Tatsächlich war die innere Struktur der Arbeiterklasse schon immer durch ihre Trennung nach Orten, Berufstraditionen, Religionen usw. geprägt. Auch „war die Zahl der organisierten und der herrschenden Kultur bewußt Opponierenden begrenzt“. (88) Das Organisationsnetz der Arbeiterparteien und Gewerkschaften erfasste immer nur eine Minderheit der arbeitenden Klassen, und zudem stand die parteipolitische Zersplitterung der Arbeiterbewegung einer homogenen Interessenartikulation und -vertretung entgegen. Es war keineswegs die Mehrheit, die schließlich ein politisches und gewerkschaftliches Bewusstsein entwickelte.[8]

So ist es nicht verwunderlich, dass „nur in ‚Ausnahmesituationen’ […] die dadurch innerhalb der Arbeiterklasse gegebenen politischen Grenzen praktisch überwunden [wurden]“. (84; so auch 107)

ArbeiterInnen in Deutschland

Kommen wir noch einmal auf den Buchtitel zurück: „ArbeiterInnen in Deutschland“. Thien bleibt die Antwort schuldig, wen er mit diesen „ArbeiterInnen“ eigentlich meint? In den Aufsätzen treffen wir auf „Arbeiter“, „Lohnarbeiter“, „Fabrikarbeiter“, „Beschäftigte“, „Facharbeiter“, „Industriearbeiter“ – manche davon auch in der weiblichen Form. Sind sie alle Teil der von Thien wahlweise „Arbeiterklasse“ oder „Lohnarbeiterklasse“ benannten Klasse? Gehören zu dieser Klasse auch die Angestellten?

Zumindest letzteres wird man bejahen können, denn schon 1986 stellte Thien fest, dass die Unterschiede zwischen Arbeitern und der Mehrheit der Angestellten inzwischen „größtenteils […] künstlich“ (68) sind. Und selbst diese „künstlichen“ Unterschiede sind seit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahre 2001 und der Zusammenlegung der Landesversicherungsanstalten (für Arbeiter/innen) und der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte zur Deutschen Rentenversicherung am 1. Oktober 2005 weitgehend entfallen. Statistisch werden Arbeiter und Angestellte seitdem unter dem Oberbegriff “Arbeitnehmer” oder „abhängig Erwerbstätige“ zusammengefasst.[9]

Festhalten am Klassenbegriff

Trotz mancher Kritik an diesem Band ist es ein großer Verdienst von Thien – dies wird an den in diesem Band zusammengestellten Aufsätzen deutlich –, auch gegen den wissenschaftlichen Mainstream über Jahrzehnte „in ebenso geduldiger wie beharrlicher Weise“ (Klappentext) am Klassenbegriff festgehalten hat. Er hat sich als ein unermüdlicher Rufer in der Wüste auch nicht dadurch davon abhalten lassen, weiter über die Arbeiterklasse zu schreiben, als diese „keine Konjunktur“ (59) gehabt hat. Und mittlerweile hat ihm die Geschichte gegen alle Zweifler Recht gegeben: „Der zwischenzeitlich […] scheinbar stillgelegte Klassenantagonismus“ (15) zeigt wieder seine Wirkungen.

Festzuhalten bleibt:

„Auch heute sind Arbeiterinnen (!) auf spezifische Weise in die kapitalistische Klassenstruktur eingebunden, auf eine Weise, die ihre soziale Lage, ihre Klassenlage deutlich und für den Verlauf ihres Lebens folgenreich von der anderer sozialer Gruppierungen unterscheidet.“ (104)

So ist es denn gut begründet, wenn Thien vermutet, „daß die alltäglichen Verhaltensweisen heutiger Menschen noch immer in ihrer Klassenlage und den mit ihr gegebenen Verhaltenszumutungen, mit denen umzugehen ist, verankert sind“. (109)

Fazit

Läßt man sich trotz der anfänglichen Irritation auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Sammelband ein, erkennt man, dass Thiens (un)zeitgemäße Beiträge zur Diskussion über die Arbeiterklasse auch heute noch wichtige Anregungen geben können. Es bleibt mit ihm zu hoffen, dass diese Wiederveröffentlichungen „vielleicht doch zur Beförderung weiterer Denkanstrengungen führen können.“ (16)

  1. Beaud, Stéphane / Pialoux, Michel: Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Die Peugeot-Werke von Sochaux-Mentbéliard, Konstanz, 2004 (franz. 1999), 21.
  2. Abstracts der Tagungsbeiträge finden sich unter: http://www.uni-due.de/ soziologie/tagung_klassengesellschaft.php
  3. Vgl. hierzu beispielhaft: Statistisches Bundesamt (Hg.): Datenreport 2006, Bonn, 2006, 591 ff.
  4. 1. Entwurf für ein Programm der Partei DIE LINKE. Entwurf der Programmkommission, veröffenticht unter: http://die-linke.de/programm/programmentwurf/
  5. Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft, 1986, 117.
  6. Hardt, Michael / Negri, Antonio: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M., 2002; dies.: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M., 2004.Im Literaturverzeichnis des besprochenen Bandes sind diese Titel nicht aufgeführt. Diese und andere Mängel insbesondere der Literaturliste sind ärgerlich.
  7. Vgl. Alheit, Peter: Arbeit, Lebensweise und Kultur. Zur Veränderung der sozialen Reproduktionsbedingungen der Arbeiterklasse; in: Hofschen, Heinz-Gerd / Schwerd, Almut (Hg.) Gesellschaft im Umbruch. Die Zukunft der Arbeit und der Arbeiterbewegung, Bremen / Marburg, 1988, 114; Kreckel, Reinhard: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt a.M. / New York, 1997, 149 (Fußnote 38).
  8. Vgl. Deppe, Wilfried: Drei Generationen Arbeiterleben. Eine sozio-biographische Darstellung, Frankfurt a.M. / New York, 1982, 369.
  9. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.): Statistisches Taschenbuch. Arbeits- und Sozialstatistik 2004-2008, Bonn, 2008.
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