Alban Werner: Zur Rückkehr einer alten Frage

Alban Werner: Zur Rückkehr einer alten Frage

in: spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 175 (Ausgabe 7/2009), S. 56-57

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Günter Bells Untersuchung rückt konkrete Manifestationen der Klassengesellschaft in den Mittelpunkt

Die Auswirkungen von Sozialstaatsumbau, Prekarisierung und sichtbarer Polarisierung haben dazu beigetragen, dass der Begriff der sozialen Klasse wieder attraktiver wird, wenn es um die Beschreibung auch der bundesdeutschen Realität geht. Genau an diesen Tendenzen setzt die Dissertation des Kölner Sozialwissenschaftlers und Stadtplaners Hans Günter Bell an. Erfrischenderweise tritt er nicht mit dem Anspruch auf, zwischen den marxistischen, weber-marxistischen oder bourdieuschen Varianten der Klassentheorie einen Neuentwurf zu präsentieren. Stattdessen geht es um die Wiederbelebung der Fragestellung E.P. Thompsons, nämlich den konkreten Formen von Klassensolidarität.

Die Hinwendung ist zu begrüßen, weil sie doch in etlichen thematischen Untersuchungen vernachlässigt wird. So muss Stefano Bartolini gleich zu Beginn seiner ansonsten brillanten, breit angelegten Studie zur Mobilisierung der europäischen Arbeiterbewegung zwischen 1870 und 1980 konzedieren, der Aspekt der Klassensolidarität „will not be included in this study because I have been unable to conceptualize it, let alone measure it, in any way“. Günter Bell geht das Problem methodisch von der umgekehrten Seite an, indem er keinen Vergleich mit großer Reichweite versucht, sondern eine Fallstudie eines eng umschriebenen Gebiets anbietet: Des stark proletarisch und migrantisch geprägten Stadtteils Köln-Kalk. Zunächst entwickelt Bell anhand eines – allerdings sehr kursorisch ausfallenden – Durchgangs durch das Repertoire der marxschen und marxistischen Klassentheorie den Klassenbegriff. Er hält dabei an Marxens Unterscheidung von „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“ fest: Sowohl die sozialstrukturelle Erfassung eines latenten Kollektivs von Lohnabhängigen, als auch der mobilisierten Gruppe der „Arbeiterklasse“ nimmt er sich an (vgl. S. 24ff). Lobenswert ist, dass in der Untersuchung eine Integration der „horizontalen“ Ungleichheiten mit der Achse Kapital-Arbeit versucht wird. Frauen werden demnach als „Quasi-Klassenfraktion“ kategorisiert, was ihre subalterne Position innerhalb unterschiedlicher Klassen deutlich macht (32f). Im Zusammenhang mit der Rolle von MigrantInnen in der Klassenstruktur weist Bell neben derer sozialstruktureller Relevanz auf wichtige Aspekte der Erfahrungswirklichkeit hin. Nicht nur bleiben MigrantInnen oft subaltern, weil die Folgen industriellen Strukturwandels und konjunktureller Schwankungen auf sie abgewälzt werden (S. 35), sondern die Art und Weise, in der MigrantInnen in die deutsche Gesellschaft (nicht) integriert worden sind, schuf eine Grundlage für wachsenden Rassismus. „Die sozialen Folgen der Migration werden vor allem den gesellschaftlichen Gruppen aufgebürdet, die bereits großen Belastungen ausgesetzt sind: den Un- und Angelernten und einfachen ArbeiterInnen, deklassierten Schichten ausgegrenzten Gruppen (Dauerarbeitslose etc.) und den MigrantInnen selbst“ (37).

Die wichtigste Innovation von Bells Herangehensweise ist die Verknüpfung der Klassentheorie mit raumsoziologischen Kategorien. Der sozial produzierte Raum wird als in mehrfachem Sinne für die Klassenstruktur der Gesellschaft mitkonstituierend begriffen: Die Verbindung von Raum und sozialer Ungleichheit, die die Studie systematisch erhellt (vgl. v.a. S. 62f), erweist sich als geeigneter Anschlusspunkt, um die sozialstrukturell betrachtete „Klasse an sich“ mit den erfahrungsweltlichen Handlungsbedingungen des Kollektivs Arbeiterklasse zu verknüpfen. Die Einbeziehung des an räumliche Bilder gebundenen kollektiven Gedächtnisses füllt einen blinden Fleck nicht nur der Klassen-, sondern auch der Ideologie- und Hegemonietheorie (S. 72f).

Methodisch Angreifbar bleibt hingegen die Konzeptualisierung des Klassenhandelns: Obwohl der Autor das „solidarische Alltagshandeln“ anspricht, werden de facto nur Erscheinungen (Arbeitskämpfe, Demonstrationen) untersucht, die mit mehr oder minder mobilisierungsfähigen Großorganisationen zusammenhängen: Im Wesentlichen aus den DGB-Gewerkschaften und die „Arbeiterparteien“ SPD und WASG bzw. DIE LINKE rekrutieren sich die Personen aus der Gruppendiskussion und der teilnehmenden Beobachtung. Zur politischen Repräsentation von Klassen durch Parteien gibt es ein breites Repertoire soziologischer Literatur, das unberücksichtigt bleibt. Zudem fehlt die in der bundesdeutschen Geschichte wichtige katholische Arbeiterbewegung.

Überraschend und ernüchternd fördern die Interviews mit Aktiven aus den o.g. Organisationen zutage, wie stark die arbeitenden Klasse selbst in einem deutlich proletarischen Stadtteil wie Köln-Kalk gleich mehrfach gespalten sind: Nicht nur zwischen migrantischen und nicht-migrantischen Lohnabhängigen, sondern auch zwischen den MigrantInnen unterschiedlicher Herkunft bestehen Ressentiments (S. 111). Interessant dabei: Die Spaltung der Lohnarbeitenden entlang verschiedener Nationalitäten ist den Befragten dabei durchaus bewusst (S. 127), eine politische Priorität für die Aufhebung der Spaltung ergibt sich daraus aber noch nicht – nach Betriebsschluss bleiben Deutsche und MigrantInnen jeweils unter sich (S. 131).

Exemplarisch werden mehrere Stationen kollektiven Protests, etwa gegen Standortverlagerungen, Betriebsschließungen oder zur Verhinderung eines Neonazi-Aufmarsches betrachtet, die Aufschluss über soziale und politische Prozesse im Stadtteil Köln-Kalk geben, die aber ein klares Urteil zum Solidaritätspotential außerhalb der institutionellen Politik von Parteien, Gewerkschaften und Verbänden erlauben. Die politisch zu ziehende Schlussfolgerungen aus dem Fazit kann nur lauten, dass mit der Auflösung des räumlichen Zusammenhangs durch die Schließung großer Arbeitsstätten auch die Grundlage gleicher Alltagserfahrungen schwinden. Deswegen könne Köln-Kalk wenn überhaupt, nur noch eingeschränkt als „Arbeiterstadtteil“ betrachtet werden (166f). Perspektiven solidarischen Handelns auf Grundlage von gemeinsamen Klassenmerkmalen werden durch die Spaltung in „MigrantInnen“ und „Deutsche“ erheblich belastet (S. 163). Insofern belegt Günter Bells Studie nicht weniger, als dass der Schlussappell im Kommunistischen Manifest „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ auch die Voraussetzung für erfolgreiche soziale Kämpfe auf der lokalen und snationalen Ebene ist.

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