Arbeiter auf dem Rückzug

Arbeiter auf dem Rückzug

Felix Klopotek hat sich mit dem Sozialwissenschaflter Günter Bell
über Armut und Widerstand im Stadtteil Kalk unterhalten.

Quelle: Stadt Revue 07-2009

In Tom Gerhardts Proll-Klamotte »Voll normaaal« droht dem unbotmäßigen Underdog Tommy durch Zuhälter Jupp ein »Köln-Kalk-Verbot«. Gags wie dieser versinnbildlichen den Status des rechtsrheinischen Stadtteils: Kalk gilt als prekäres Veedel, dessen 21.000 Einwohner sich gleichwohl mit ihm identifizieren.
Er wolle einen »Lichtschein ins Veedel werfen«, betont der Stadtforscher Günter Bell im Interview. Mehrere Jahre hat der gebürtige Kalker im dortigen Milieu von Gewerkschaftern, Sozialdemokraten, linken Aktivisten und Arbeitern recherchiert und sich auf die Suche nach Widerstand gegen zunehmende Verarmung, Arbeitslosigkeit und soziale Verwahrlosung begeben. Die Ergebnisse hat er in der Studie »Ein Stadtteil, in dem die Arbeiterklasse zu Hause ist?« festgehalten.
StadtRevue: Herr Bell, Sie haben Kalk als exemplarisches Beispiel für einen bestimmten proletarischen Stadtteil-Typus gewählt. Welche Kölner Stadtteile wären mit Kalk vergleichbar?
Günter Bell: Beispielsweise hat Ehrenfeld eine ähnliche industrielle Geschichte. Und die Kalker Armutssituation findet sich im gesamten ersten rechtsrheinischen Vorortgürtel: Buchforst, Vingst, Höhenberg, Ostheim – die haben die gleichen Probleme wie Kalk. Kalk unterscheidet sich von diesen rechtsrheinischen Stadtteilen durch das historisch gewachsene enge Nebeneinander von Industrie und Wohngebieten.
Und diese verflochtene Struktur hat sich in der letzten Generation von Arbeitern und Angestellten aufgelöst, weil die Industrie verschwunden oder an den Stadtrand gewandert ist.
Wir haben in Kalk und den angrenzenden Stadtteilen über einen Zeitraum von dreißig Jahren einen Verlust von 15.000 industriellen Arbeitsplätzen. Zum Teil sind die Arbeitsplätze ganz verschwunden, zum Teil sind sie verlagert worden. Sind sie ganz verschwunden, ist Arbeitslosigkeit die Folge – bis heute anhaltend. Denn die neu geschaffenen Arbeitsplätze haben ein anderes Qualifikationsprofil. Aber auch dann, wenn die Arbeitsplätze bloß verlagert worden sind, hat sich das Milieu des Stadtteils geändert. Viele Kollegen sind mit den Betrieben weggezogen.
In Ihrer Studie sprechen Sie von der sich auf dem Rückzug befindenden Industriearbeiterklasse.
Die Rede von »der Industriearbeiterklasse« bedient meist nur Klischees. Auch in der Weimarer Repulik und in den 50er Jahren hat es keine homogene Arbeiterklasse gegeben – auch nicht in Kalk. Mir geht es um eine Tendenz, eine Verschiebung, und da komme ich zu dem Ergebnis: Die Fähigkeit und Bereitschaft in Kalk, als Lohnabhängiger seine Interessen zu vertreten, ist heute unterm Strich geringer als in den 60er Jahren.
Woran liegt das?
Unter anderem daran, dass die Räume fehlen. Man hat die Kantine der Chemischen Fabrik Kalk früher den »Gürzenich von Kalk« genannt. Da fand alles statt, da kamen die Kalker zusammen, ich kann mich noch an die Weihnachtsfeiern des Fußball-Clubs Borussia Kalk erinnern. Die Fabrik gibt es nicht mehr, also ist auch die Kantine weg. Da stehen jetzt die KölnArcaden. Und in den Straßen wohnen die Kollegen nicht mehr nebeneinander. Dieser Wandel trägt dazu bei, dass es schwieriger ist, politische Aktionen miteinander abzusprechen: Man läuft sich einfach seltener über den Weg.
Es ziehen jetzt viele Studenten nach Kalk, es gibt schickere Neubaugebiete, auch das trägt zur Auflösung des älteren Klassenzusammenhangs bei .
Ich begreife das als Herausforderung. Warum sollen sich Studenten, alte Kalker, Türken, die vor zwanzig Jahren zugezogen sind, nicht gemeinsam gegen Mieterhöhungen und verkommene Häuser wehren? Der englische Sozialhistoriker Edward P. Thompson hat gezeigt, dass wir nicht von einer fix und fertigen Arbeiterklasse ausgehen können, sondern erst einmal von Menschen, die ausgebeutet werden, sich dagegen wehren und dann merken, dass sie nicht die einzigen sind, die ausgebeutet werden. Erst aus diesem gemeinsamen Kampf entsteht die Klasse, nicht umgekehrt. Daran habe ich mich in meiner Studie gehalten. Es geht mir um Erfahrungen, die die Leute machen und dann gemeinsam teilen. Das kann in ganz unterschiedlichen Konstellationen passieren, natürlich auch in der Wohnsituation. Man muss die Situation unter diesen Aspekten noch einmal neu sehen: Wo kristallisieren sich neue Kerne von Widerstand?
Und dieser Widerstand gruppiert sich um bestimmte Räume…
In Kalk muss man vor allem das Naturfreundehaus in Betracht ziehen. Eigentlich eine klassische Institution der alten Arbeiterbewegung, die in Kalk aber belebt wird von einer Generation junger Leute. Die haben eher einen akademischen Background – es sind völlig andere Menschen, als die, die in Vergangenheit als Naturfreunde-Ost zum Wandern aufgebrochen sind. Das ist ein kleiner Nukleus von Veränderungsprozessen.
Wie wichtig schätzen Sie die Reste der alten Solidarität für zukünftige Konflikte ein?
In Kalk gibt es einen großen Bestand an Solidarität. Was fehlt, ist die »Kritische Masse«, Leute, die den Anstoß für Organisationsprozesse geben. Diese »Kritische Masse« ist in Kalk nicht mehr – und noch nicht wieder vorhanden. Nun sind wir in einer Situation, wo sich vielleicht breiter sozialer Widerstand entwickeln kann. Die Grundlage ist da und die Situation durchaus dramatisch: Die letzten Reste industrieller Arbeit in Kalk drohen zu kippen, uns steht ein neuer Schub von Arbeitslosigkeit bevor. Aber ob der Funke überspringt, das weiß ich nicht.

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