Liegt die Zukunft der Städte in den Slums?

Liegt die Zukunft der Städte in den Slums?

Erschienen in Z 71

Mike Davis, Planet der Slums, Assoziation A, Berlin 2007, 247 S., 20 Euro

Worldwatch Institute (Hrsg.), Zur Lage der Welt 2007. Der Planet der Städte, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2007, 327 S., 19.90 Euro

Vermutlich schon in diesem Jahr werden weltweit zum ersten Mal mehr Menschen in Städten als auf dem Land leben. An der Spitze dieser Entwicklung stehen Städte mit mehr als 20 Mio. Einwohner/-innen, deren Liste 2004 von Mexiko-Stadt angeführt wurde. Die Last des zukünftigen Bevölkerungswachstums wird jedoch nicht von diesen Riesenstädten, sondern überwiegend von kleineren Städten und Ballungsgebieten getragen werden; und dieses Bevölkerungswachstums entfällt zu 95 Prozent auf die städtischen Gebiete der Entwicklungsländer. Diese Entwicklung ist Gegenstand zweier in diesem Jahr auf Deutsch erschienener Bücher.

Der US-amerikanische Stadtsoziologe Mike Davis hat mit seinem “Planet der Slums” eine fulminante Anklageschrift gegen die Ausbreitung der Slums vorgelegt.[1]

Die Städte der Zukunft werden „nicht aus Glas- und Stahlkonstruktionen bestehen, wie es sich frühere Generationen von Urbanisten ausgemalt haben, sondern eher aus grobem Backstein, Stroh, recyceltem Plastik, Zementblöcken und Abfallholz. Statt in hoch zum Himmel strebenden Lichterstädten zu leben, wird ein Großteil der urbanen Welt des 21. Jahrhunderts inmitten von Umweltverschmutzung, Exkrementen und Abfall im Elend versinken.“ (Slums, 23) – so die düstere Erwartung Davis’.

Schon heute lebt ein Drittel der städtischen Bevölkerung der Welt in Slums. Was aber ist überhaupt ein „Slum“? Davis bezieht sich auf eine Definition der UN aus dem Jahr 2002. Demnach ist ein Slum „eine überfüllte, ärmliche bzw. informelle Unterkunft ohne angemessenen Zugang zu Trinkwasser und sanitären Einrichtungen sowie ungesicherter Verfügungsgewalt über Grund und Boden“. Weltweit gibt es wahrscheinlich mehr als 20.000 solcher Slums, deren jeweilige Bevölkerungszahl von ein paar hundert bis zu mehr als einer Million Menschen reicht.

Die räumliche Segregation in Stadtteile, in denen die Armen gezwungen sind, „mit der Bevölkerungsdichte eines Ameisenhügels zu wohnen“ (Slums, 103), und in Stadtteile, in denen die Reichen ihre Gärten und weitläufigen Grundstücke genießen, „ist kein starrer Zustand, sondern ein endloser sozialer Krieg“ (Slums, 105). Ein Krieg, in dem jedes Jahr Hunderttausende, manchmal Millionen von Armen der Entwicklungsländer gewaltsam geräumt werden.

Als Folge oder aus Furcht vor dieser Vertreibung siedeln Menschen in Sümpfen und Überschwemmungsgebieten, auf Vulkanen, rutschigen Hängen, Müllbergen, Chemiemülldeponien, an Rangiergleisen und Wüstenrändern. Viele Slums liegen neben Pipelines, Chemieanlagen und Raffinerien und sind von einem Schleier aus Schadstoffen eingehüllt; und viele Slumbewohner müssen wortwörtlich „in der Scheiße leben“.

Doch Davis belässt es nicht bei der eindringlichen Beschreibung der Lage in den Slums. Ihn interessieren auch die Ursachen dieser Entwicklung. Mit Blick auf das revolutionäre Kuba und auf die Politik von Staatsmännern wie Nasser, Nehru und Sukarno, die am Ende der 1950er und zu Anfang der 1960er Jahre versprachen, die Slums zu sanieren und viele neue Wohnungen zu bauen, stellt er fest: „Der Slum war nicht die unausweichliche Zukunft der Stadt.“ (Slums, 66)

Fast ein halbes Jahrhundert später haben die Regierungen jedoch längst jede ernsthafte Bemühung zur Beseitigung der Slums aufgegeben. Verantwortlich hierfür sind für Davis vor allem die Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank, die in den späten 1970er und 1980er Jahren mit einem „Giftcocktail“ (Slums, 161) aus Abwertung der Landeswährung, Privatisierung, Aufhebung der Importkontrollen und Nahrungsmittelsubventionen und rücksichtslose Kürzungen im öffentlichen Sektor der Schuldnerländern die Abwanderung überschüssiger landwirtschaftlicher Arbeitskräfte in die urbanen Slums selbst dann noch vorangetrieben haben, als die Städte aufgehört hatten als Jobmaschinen zu wirken. IWF und Weltbank übernahmen auch mehr und mehr das Kommando über die Gestaltung der Rahmenbedingungen städtischer Wohnungspolitik: Statt die Slums durch angemessenen Wohnraum zu ersetzen, wurde deren „Sanierung“ zum Hauptziel erklärt.

Während grün-alternative Kreise Hand in Hand mit IWF und Weltbank „von den Fähigkeiten der Armen zur gemeinschaftlichen Selbstorganisation und ihrer Geschicklichkeit beim Hausbau“ (Slums, 78) schwärmen, sieht Davis hierin schlicht „eine radikale Abwendung vom sozialen Wohnungsbau“ (Slums, 78f.) und in diesem Rückzug des Staates einen Hauptgrund für die Zunahme von Armut und Ungleichheit: „Die Lobpreisung der Selbsttätigkeit der Armen wurde zum Deckmantel für die Aufkündigung der historischen Verpflichtung des Staates, Armut und Obdachlosigkeit zu beseitigen.“ (Slums, 79)

Davis erkennt, dass die Lösung der globalen Umweltkrise in den Städten liegt: Nur die urbane Dichte ermöglicht eine effiziente Ressourcennutzung. Tatsächlich jedoch verschmutzen und zerstören die Städte der Entwicklungsländer systematisch ihre lebenswichtigen Ökosysteme und sind „zum Müllabladeplatz für eine überschüssige Bevölkerung ungelernter, unterbezahlter und entgarantierter Arbeitskräfte im informellen Dienstleistungsgewerbe und Handel geworden“ – so die von Davis zitierte Analyse des 2003 erschienenen UN-Berichtes The Challenge of Slums[2].

Statt einen Automatismus zu unterstellen, aus dem heraus aus dem Elend der fortschrittliche Widerstand erwächst, sieht er vielmehr die Gefahr, dass der „erbarmungslose Kampf ums Überleben […] zu selbstzerstörerischer Gewalt in den Communitiys [führt]“. (Slums, 210) Neben der möglichen Option, sich revolutionären sozialen Bewegungen anzuschließen, stehen vielfältige andere „Lösungen“ zur Auswahl: charismatische Erlöserkirchen, ethnische Milizen, Straßengangs und neoliberalen NGOs. Letzteren wirft er vor, einen „sanften Imperialismus“ (Slums, 83) zu betreiben und die urbanen sozialen Bewegungen zu befrieden, indem sie „die Aufmerksamkeit der Leute von den größeren politischen Übeln des Imperialismus auf rein lokale Belange [ablenken]“. (Slums, 84)

Gerade auf die so Gescholtenen NGOs richten sich hingegen die Hoffnungen des Worldwatch Institute, dessen aktueller Bericht „Zur Lage der Welt 2007“[3] sich im Kontrast zum groben Strich Davis gerade detailliert mit den ‚kleinen’, lokalen Lösungsansätzen für globale umwelt- und sozialpolitische Herausforderungen befasst.

Ergänzend zu den thematischen Darstellungen in den Kapiteln zu Wasser- und Sanitärversorgung, Landwirtschaft in den Städten, Transportsystemen, Energie, Naturkatastrophen, Lokale Ökonomie und Kampf gegen Armut und für Umweltgerechtigkeit werden zu unterschiedlichen Herausforderungen konkrete Beispiele für gelungene Stadtentwicklung aus so unterschiedlichen Städten wie Timbuktu, Lagos, Melbourne, Freetown, Rhizao oder Brno vorgestellt.

Der gesamte Tenor dieses Buches ist sehr viel optimistischer als derjenige von Davis, der die Zukunft eher in dunklen Farben ausmalt. Aufgezeigt werden nicht nur die Probleme, mit denen die Städte der Welt konfrontiert sind, sondern auch die „bemerkenswerte Reihe vielversprechender Vorstöße, die in den letzten paar Jahren überall gemacht werden“. (Städte, 54)

Ein Mangel des populärwissenschaftlich geschrieben Buches von Davis ist sicher, dass er in einem Parforceritt durch die Jahrzehnte und über die Kontinente eilt und die Zahlen und Fakten in Windeseile an Leserin und Leser vorbeirauschen. Am Ende wird man nichts Genaues erfahren, aber den Eindruck gewonnen haben, dass Einiges sehr schief läuft. Doch wer Lösungen für die benannten Probleme sucht, der wird von Davis Buch enttäuscht, denn Auswege aus der Misere zeigt es keine auf. Und der größte Mangel ist sicherlich das weitgehende Fehlen der Kämpfe der Armen gegen ihre bedrückende Lebenssituation.[4]

Während Davis eine Welt beschreibt, „in der die Forderungen der ausländischen Banken und Kreditgeber gegenüber den lebensnotwendigen Bedürfnissen der urbanen und ländlichen Armen immer Priorität haben“ (Slums, 161), ‚wagt’ der Bericht des Worldwatch Institute gerade einmal, darüber nachzudenken, dass es „vielleicht [!] […] der Fehler der 1990er Jahre [war], wirtschaftlich sinnvolle Prinzipien in der Wasser- und Sanitärversorgung […] mit den Interessen großer Privatunternehmen zu verwechseln und zu glauben, nur große Privatunternehmen könnten den Sektor wirtschaftlich betreiben“. (Städte, 117)

Diese Zurückhaltung ist Programm, und nicht zufällig wurde die von der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch herausgegebene deutsche Ausgabe von der Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann (SPD) und dem Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon (Grüne) vorgestellt – derjenige Salomon, dessen Plan, die städtische Wohnungsgesellschaft zu veräußern, durch einen Bürgerentscheid gestoppt werden musste.

Es liegen also zwei sehr unterschiedliche Bücher vor, doch beide verdienen es, gelesen zu werden. Sie tragen auf ihre je eigene Art und Weise dazu bei, das Interesse für die Slums zu wecken und aufzuzeigen, dass in denn Städten der Schlüssel zur ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit liegt.

  1. Im Folgenden zitiert als „Slums“.
  2. United Nations Human Settlements Programme (UN-Habitat) (Hg.): The Challenge of Slums. Global Report on Human Settlements, London 2003.
  3. Im Folgenden zitiert als „Städte“.
  4. Erfreulich, dass Davis bereits einen Folgeband angekündigt hat, in dem er den in den Slums verwurzelten Widerstand untersuchen will.
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