Über Schichten, Klassen und Milieus

Über Schichten, Klassen und Milieus

Erschienen in spw-Broschüre

Anmerkungen zur begrifflichen Darstellung sozialer Realitäten

Was auch immer der SPD-Vorsitzende Kurt Beck erreichen wollte, als er das „Unterschichten-Problem“ in Deutschland ansprach, immerhin hat er eine wichtige Diskussion angestoßen. Anders als von Beck vermutlich beabsichtigt, kann die SPD von dieser Diskussion jedoch nicht profitieren, denn zum einen ist der Zusammenhang zwischen „Hartz IV“ und der zunehmenden Armut zu offensichtlich. Daher fehlt Kurt Becks Vorstoß die Glaubwürdigkeit. Zum anderen fielen die Reaktionen der SPD-Prominenz zu vielstimmig und dissonant aus, als dass man eine gemeinsame Strategie und die Bereitschaft zu einem Politikwechsel dahinter hätte vermuten können.

Bereits eine flüchtige Lektüre der verschiedenen Politikeräußerungen und Medienkommentare, die Kurt Becks „Unterschicht“-Äußerung hervorgerufen hatte, vermitteln den Eindruck, dass sich viele derjenigen, die sich zu Wort melden, der Begriffe nicht sicher sind oder sie bewusst verunklaren.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Kernbegriff der aktuellen Debatte, die „Unterschicht“, tatsächlich diffus ist. Seine Herkunft aus einer soziologischen Sichtweise, die die Gesellschaft in Schichten einteilt, ist offensichtlich. Damit hält er einerseits an einer Einteilung der Gesellschaft in Großgruppen fest, grenzt er sich jedoch andererseits dagegen ab, die Gesellschaft als Klassengesellschaft zu erkennen.

Wenn schon Begrifflichkeiten seit Jahrzehnten verbreiteter Modelle sozialer Schichtung heftige Distanzierungen auslösen und mancher in seiner Not, das Problembündel aus Ausgrenzung, Armut und Selbstaufgabe nicht beim rechten Namen nennen zu wollen, von „Menschen mit sozialen und Integrationsproblemen“ (Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag) spricht, dann muss die Sorge groß sein, die Geister, die man rief, nicht mehr loswerden zu können.

Tatsächlich ist weder die von Kurt Beck angesprochene Erscheinung wirklich neu, noch wird die Diskussion zum ersten Mal geführt. In der Aufmerksamkeit, die diese neuerliche Auflage findet, spiegelt sich vielleicht die Erkenntnis wider, dass sich angesichts der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und der Gefährdung bisher als vermeintlich sicher geltender Arbeitsplätze die Wahrnehmung verschiebt und „die Grundtatsachen der kapitalistischen Klassengesellschaft wieder Kontur [erhalten]“. (Rehberg, 2006, 25)

Im folgenden Beitrag soll der Versuch unternommen werden, einige der zentralen Begriffe der aktuellen Debatte in ihre soziologischen Zusammenhänge einzuordnen und ihre Leistungsfähigkeit zur Beschreibung und Analyse der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft zu überprüfen. Entgegen der verbreiteten Neigung, den marxistischen Klassenbegriff als überholt ad acta zu legen und sich „modernerer“ Begriffe zu bedienen, ist dieser m.E. weiterhin geeignet, die gegenwärtigen Sozialstrukturen zu analysieren. Seine Stärke in Abgrenzung insbesondere zum Schichtbegriff soll ebenso dargestellt werden wie die Notwendigkeit, ihn – auch in Kenntnis der Ergebnisse der neueren Ungleichheitsforschung – weiterzuentwickeln.

Von Zwiebeln und Häusern: Modelle sozialer Schichtung

Die Soziologie verfügt zur Analyse der Sozialstruktur einer Gesellschaft über verschiedene Modelle: Am ältesten sind Klassenstrukturmodelle, jünger sind Modelle sozialer Schichtung. Als Reaktion auf tatsächliche oder unterstellte Mängel beider Modelle wurden zuletzt Konzepte sozialer Lagen und sozialer Milieus entwickelt.

In der bundesdeutschen Sozialwissenschaft dominant waren über Jahrzehnte Modelle sozialer Schichtung. Solchen Modellen liegt die gemeinsame Annahme zugrunde, dass sich strukturierte soziale Ungleichheiten in einer vertikal gegliederten Ordnung abbilden lassen. Ansonsten unterscheiden sich die verschiedenen Modelle u.a. danach, welche und wie viele Merkmale der Soziallage sie berücksichtigen, wie viele Schichten sie unterscheiden und wo die Schichtgrenzen gezogen werden. (Vgl. Geißler, 1986, 82 ff.)

Als die wichtigsten Dimensionen sozialer Ungleichheit gelten in der Regel Qualifikation, Einkommen und (Berufs-)Prestige. Gruppen von Menschen, bei denen Umfang und Zusammensetzung dieser Dimensionen ähnlich sind, werden zu Statusgruppen zusammengefasst.

Zu beachten sind zwei unterschiedliche Sichtweisen, wann von einer Schicht gesprochen werden kann: Während die einen nur dann von Schichten sprechen wollen, wenn sich die Statusgruppen in Lebenslage, Verhalten und Anschauungen voneinander unterscheiden, bezeichnen andere auch ‚künstliche’, d.h. rein nach soziologischen Zweckmäßigkeitserwägungen abgegrenzte Statusgruppen als Schichten. (Vgl. Hradil, 1987, 73; ders., 1995, 151 f.)

Zwei der bekanntesten Darstellungen der sozialen Schichtung der BRD der 1960er Jahre sind Ralf Dahrendorfs „Haus“ (Abb. 1) und Karl Martin Boltes „Zwiebel“ (Abb. 2).

Ein Beispiel für ein aktuelles Modell sozialer Schichtung findet sich im Datenreport 2004 des Statistischen Bundesamtes. (Statistisches Bundesamt, 2004, 603 ff.) Roland Habich und Heinz-Herbert Noll teilen in diesem Modell die erwachsene Bevölkerung in 20 soziale Lagen der Erwerbstätigkeit und Nichterwerbstätigkeit ein.

Die am stärksten besetzten Lagen sind (alle Angaben für das Jahr 2001)

  • bei den Frauen im Westen: Hausfrauen (9,6 %); im Osten: qualifizierte Angestellte/mittlere Beamte (8,2 %)
  • bei den Männern: Facharbeiter (im Westen: 7,8 %; im Osten: 10,9 %)

Von den älteren Modellen sozialer Schichtung unterscheidet sich dieses Modell einerseits durch die starke Betonung der Berufspositionen und andererseits durch die Berücksichtigung „horizontaler“ Kriterien (Alter, Geschlecht und Wohnort) bei der Ermittlung der Soziallagen.

Nicht nur von marxistischer Seite werden solche Modelle sozialer Schichtung kritisiert, weil sie die Entstehungsprozesse sozialer Ungleichheit ebenso ausblenden, wie sie keine Aussagen über die zukünftige Entwicklung von Sozial- bzw. Klassenlagen machen. (Vgl. Hradil, 1987, 74)

Durch die beliebige Vermehrung der „Statusdimensionen“ können Modelle sozialer Schichtung zwar eine beeindruckende Komplexität vorweisen, tatsächlich „fehlt ihnen aber […] jede theoretische Ordnung“ und machen sie keine Aussage darüber, „welche der vielfältigen Ungleichheiten, die da nebeneinander vermessen werden, nun welche Bedeutung für die Struktur und Entwicklung einer modernen Gesellschaft haben“. (Benschop/Krätke/Bader, 1998, 12 f.) Stefan Hradil kritisiert denn auch die „Oberflächlichkeit schichtungssoziologischer Analyse“. (Hradil, 1987, 86)

Ein weiterer zentraler Mangel dieser Modelle liegt in ihrer überwiegenden Beschränkung auf „beschreibende Aufgaben“ (Hradil, 1987, 89): Modelle sozialer Schichtung beschreiben bestimmte Sozial- und Klassenlagen, erklären sie aber nicht. Sie sind mithin auch dort rein deskriptiv, wo eine kritische Gesellschaftsanalyse Aufgabe der Sozialwissenschaft wäre.

Gemeinsamkeiten marxistischer Klassenbegriffe

So können denn auch vorhandene Gemeinsamkeiten von Klassenstrukturmodellen und einer Vielzahl von Modellen sozialer Schichtung (vgl. Geißler, 1996, 69 ff.) nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen diesen beiden Ansätzen der Sozialstrukturanalyse „fundamentale Unterschiede“ (Hradil, 1987, 73) bestehen.

Obwohl weder Karl Marx selbst noch die sich auf ihn beziehenden Kräfte einen theoretisch präzisen und einheitlichen Klassenbegriff entwickelt haben, lassen sich doch einige zentrale Gemeinsamkeiten marxistischer Klassenbegriffe angeben: (Vgl. Benschop/Krätke/Bader, 1998, 8 f.; Wright, 1985, 26 ff.)

  • Ausgangspunkt der marxistischen Klassenanalyse sind die Produktions- und Arbeitsbeziehungen. Die Relevanz anderer Beziehungen (in Familie, Freizeit oder Konsum) wird nicht abgestritten, gegenüber den Produktions- und Arbeitsbeziehungen jedoch als nachrangig angesehen.
  • Zentrale Kategorie bei der Untersuchung der Produktionsbeziehungen ist die Ausbeutungder Lohnabhängigen durch die Eigentümer der Produktionsmittel.
  • Die vorhandenen Produktions- und Ausbeutungsstrukturen führen zu dauerhaften Herrschaftsverhältnissen.
  • Der marxistische Klassenbegriff ist ein relationaler Begriff; d.h. eine Klasse besteht nie für sich allein, sondern immer nur in Bezug auf eine oder mehrere andere Klassen. (Vgl. hierzu auch: Thompson, 1987, 7; Vester/u.a., 2001, 150 ff.)
  • Relational definierte Klassen haben nicht einfach unterschiedliche Interessen, sondern sie haben immer auch gegensätzliche materielle Interessen. Die sozialen Beziehungen, die durch Klassen definiert sind, sind daher antagonistisch.

Es ist offensichtlich, dass keines dieser Wesensmerkmale auf Modelle sozialer Schichtung zutrifft.

Jenseits von Klasse und Schicht?

Seit den 1980er Jahren sind jedoch beide Sozialstrukturmodelle einer grundlegenden Kritik unterzogen worden. So stellte Ulrich Beck 1986 fest, aufgrund des sozialen Wandels werde in der Bundesrepublik Deutschland „das Denken und Forschen in traditionellen Großgruppen-Kategorien – in Ständen, Klassen oder Schichten – […] fragwürdig“. (Beck, 1986, 139) Ähnlich argumentiert Hradil, der empfiehlt, statt von Klassen und Schichten von Lagen und Milieus zu sprechen, denn: „Das Gefüge sozialer Ungleichheit in fortgeschrittenen Industriegesellschaften ist […] nicht mehr ohne weiteres als vertikal anzusehen.“ (Hradil, 1995, 160)

Tatsächlich jedoch überzeichnet diese – zeitweise sehr populäre – Sichtweise fraglos vorhandene Tendenzen zur Entstrukturierung der vertikalen sozialen Ungleichheit und zur Abschwächung der Prägekraft sozialer Großgruppen. Reiner Geißler weist denn auch völlig zu Recht darauf hin, dass Lebenschancen in Deutschland weiterhin in erheblichem Ausmaß von Berufsposition und Bildungsniveau abhängig sind, und argumentiert – aus Sicht eines „Schichtungssoziologen“ – dass „schichttypische Soziallagen, Subkulturen und Lebenschancen trotz der Tendenzen zur Vereinheitlichung, Pluralisierung, Individualisierung, Differenzierung und Diversifizierung fortbestehen“. (Geißler, 1996, 78)

Und auch Hradil selbst stellt in einem aktuellen Artikel fest, „dass es voreilig war, die berufliche Stellung, das Einkommen und den Bildungsgrad als Prägefaktoren für das Alltagsleben der Menschen aufs Abstellgleis zu schieben“. (Hradil, 2006, 4) Unter dem Eindruck der Rezession seien „die wirtschaftliche[n] Umstände als Prägefaktoren der Mentalität“ wieder in den Vordergrund getreten.

Karikatur einer Zwei-Klassentheorie

Lässt sich also mit guten Gründen weiterhin an der Prägekraft „vertikaler“ Ungleichheiten und der herausgehobenen Wirkungskraft der Ökonomie auf die Strukturen und Mentalitäten festhalten, so muss sich speziell die marxistische Klassentheorie weitergehender Kritik erwehren.

Der Nachweis, dass „die üblicherweise präsentierte Karikatur einer Zwei-Klassentheorie, die Marx untergeschoben wird“ (Benschop/Krätke/Bader, 1998, 10), ein Popanz ist, fällt dabei noch leicht. (Vgl. zum Folgenden auch: Mauke, 1970; Giddens, 1979)

Marx selbst entfaltet in seinen sozial-historischen Studien, z.B. in Klassenkämpfe in Frankreich (Marx, 1960a) oder im 18. Brumaire des Louis Bonaparte (Marx, 1960b), ein vielfältiges Bild der jeweiligen Gesellschaft. In diese konkreten Analysen der gesellschaftlichen Klassen bezieht er die materiellen Lebensbedingungen ebenso ein wie politische Gruppierungen und Anschauungen.

Und auch in der Anwendung der Marxschen Klassentheorie kommt ein differenzierter Begriffsapparat zur Anwendung: So ist denn z.B. die Studie des Instituts für marxistische Studien und Forschungen (IMSF) zur Klassenstruktur der BRD 1950-1970 (IMSF, 1973 ff.) sehr viel differenzierter, als manche Kritiker der leninischen Schule dies hätten erwarten mögen. Sie untersucht eben nicht nur die beiden Klassen Bourgeoisie und Proletariat, sondern unterscheidet neben diesen beiden Grundklassen zudem Neben- und Übergangsklassen sowie Zwischen- bzw. Mittelklassen. Mit Hilfe dieser Unterscheidung lassen sich auch Restbestände bereits überholter Produktionsverhältnisse, wie z.B. die Großgrundbesitzer oder die kleinen agrarischen und gewerblichen Produzenten, in die Klassenstruktur der Gesellschaft einordnen, ohne sie – fälschlich – der Bourgeoisie oder dem Proletariat zuschlagen zu müssen. Die Existenz solcher Übergangsklassen unterstreicht im Übrigen, wie langwierig und ungleichzeitig gesellschaftliche Umwälzungen sind.

Marxistische Klassenanalyse untersucht jedoch nicht nur Klassen, sondern auch Schichten und Gruppen – was in Abgrenzung zu Modellen sozialer Schichten zunächst begriffliche Unklarheiten hervorrufen mag. Schaut man sich jedoch die unterschiedlichen Verwendungsweisen und Definitionen sozialer Schichten in Modellen sozialer Schichtung einerseits und in marxistischen Klassenstrukturmodellen andererseits an, werden die Unterschiede deutlich.

Der Begriff Schicht findet sich, wenn auch selten, schon bei Marx und Friedrich Engels und hat häufig eine deskriptive Bedeutung. So wird etwa im Manifest der Kommunistischen Partei das Proletariat als „die unterste Schichte der jetzigen Gesellschaft“ (Marx/Engels, 1964, 472) bezeichnet – eine Verwendungsweise, die derjenigen in Modellen sozialer Schichtung nicht unähnlich ist. Analytisch präziser bezeichnet der Begriff an anderen Stellen jedoch auch relevante Teilmengen innerhalb gesellschaftlicher Klassen. So finden sich in den Schriften von Marx und Engels zahlreiche Bemerkungen zu verschieden Teilmengen der Arbeiterklasse oder zu gesellschaftlichen Zwischengruppen, die vorübergehende Überbleibsel aus früheren Produktionsweisen sind, wie die kleinen Mittelstände.

Auch in der IMSF-Studie werden als Schichten relevante Teilgruppen gesellschaftlicher Klassen beschrieben: solche sozialen Gruppen, die „nicht mit den Klassen identisch sind, jedoch durch eine bestimmte objektive Stellung in der Wirtschaft definiert sind“. (Jung, 1973, 57) Wobei nochmals zwischen Schichten z.B. innerhalb der Arbeiterklasse (Industrieproletariat, Handels- und Büroproletariat, landwirtschaftliches Proletariat) und Schichten zwischen den Klassen (Kleinproduzenten, die Intelligenz und lohnabhängige Zwischenschichten) unterschieden wird.

Während die marxistische Klassenanalyse Schichtungen nach sozialer Herkunft, Einkommen, Qualifikation, Bildung u.a.m. also als zusätzliche Charakterisierungsmomente behandelt, stehen solche Momente in Modellen sozialer Schichtung im Vordergrund.

Die „Achillesferse“ der marxistischen Klassentheorie

Gewichtiger ist der Einwand Hradils, dass Klassen „keine homogene Klassenlagen, Lebensformen und politische Bestrebungen“ (Hradil, 1987, 72) mehr aufweisen und sich allenfalls „gewisse ‚Klasseneinflüsse’, aber kaum noch individuelle erfahrbare ‚Klassenlagen’ nachweisen [lassen]“. (Hradil, 1987, 7) Tatsächlich berührt er damit einen wunden Punkt, denn der Zusammenhang zwischen „objektiven“ Klassenlagen und „subjektivem“ Klassenbewusstsein und -handeln stellt bis heute die „Achillesferse“ (Benschop/Krätke/Bader, 1998, 21) der marxistischen Klassentheorie dar.

Ein Beispiel für die Bemühungen, diesen Schwachpunkt zu beseitigen, ist das von Erik Olin Wright initiierte „Comparative Project on Class Structure and Class Consciousness“. (Vgl. Wright, 1997; Erbslöh/u.a., 1990) Als Teil dieses internationalen Forschungsverbundes untersuchte eine Forschungsgruppe an der Universität-GH-Duisburg, inwieweit es möglich ist, mit Hilfe eines von Wright entwickelten Klassenstrukturmodells (vgl. Wright, 1985), „gesellschaftliche Gruppen abzubilden, von denen aufgrund ihrer ähnlichen sozialen Lage ein kollektives Handeln erwartet werden kann“. (Erbslöh/u.a., 1990; vgl. zum Folgenden auch: Hagelstange, 1998)

Wright unterscheidet in diesem Modell drei Sorten von Ressourcen: Eigentum an Produktionsmitteln, Qualifikation und Organisation. Das Eigentum an Produktionsmitteln, und damit die Grunddifferenzierung zwischen Bourgeoisie und Proletariat, ist für ihn dabei nach wie vor zentral. Die Einteilung der drei Qualifikationsstufen fußt auf dem Bildungsabschluss und der aktuellen Tätigkeit; die Einteilung der drei Organisationsstufen auf dem Ausmaß der Entscheidungsbefugnis und der Zahl der Untergebenen. Die unterschiedliche Verteilung dieser beiden Ressourcen führt zur Bildung mehrerer Klassen von Arbeitnehmern: Zwischen den Polen „Expert Managers“ und „Proletarians“ existieren verschiedene Klassen, die die Ausbeutung bzw. das Ausgebeutetsein qua Organisationsressource und qua Qualifikationsressource unterschiedlich kombinieren.

Damit sind jedoch erst „objektive“ Klassen konstruiert. Im nächsten Schritt war es das Ziel der Untersuchung, die Homogenität von Lebenslagen innerhalb dieser Klassen zu überprüfen. Hierfür wurde das persönliche Nettoeinkommen der Befragten als ein grobes Kriterium genutzt. Die Hypothese über die Einkommensunterschiede unterstellt, dass die Einkommen entlang der drei Ressourcen abnehmen und Angehörige der Bourgeoisie und Proletarier die Extrempositionen einnehmen. Tatsächlich wiesen die durchschnittlich pro Klasse ermittelten persönlichen Einkommen überwiegend diejenige Konfiguration auf, die das Klassenmodell theoretisch nahe legt.

Da das Handeln der Personen in der Befragung nicht unmittelbar zu erfassen war, haben die Forscher versucht, ein wahrscheinliches zukünftiges Handeln über Fragen nach der Einstellung der Befragten zu erfassen. Zu diesem Zweck haben sie einen Bewusstseinsindex entwickelt, mit dem sie die unterschiedlichen klassenbezogenen Einstellungen ermitteln konnten. Im Ergebnis konnte auch hier eine genaue Übereinstimmung von tatsächlicher und erwarteter Konfiguration der Werte registriert werden: Über je weniger Produktionsmittelressource, Qualifikationsressource und Organisationsressource der Einzelne verfügte, desto ausgeprägter war seine „Pro-Arbeitnehmer-Einstellung“.

Hingewiesen werden muss aber auch auf theoretische Schwachstellen dieses Modells: Im Anschluss an John Roemer gelten Personen dann als ausgebeutet, „wenn es für sie hinsichtlich der Verteilung des gesellschaftlich erwirtschafteten Produkts günstiger wäre, sich mit dem jeweiligen gesellschaftlich durchschnittlichen Pro-Kopf-Anteil an Ausstattungen mit Ressourcen […] zurückzuziehen und allein zu wirtschaften, statt in der vorgegebenen Konstellation zu produzieren. Umgekehrt gelten jene als Ausbeuter, für die ein Rückzug mit dem gesellschaftlich durchschnittlichen Anteil an Ausstattungen ungünstiger wäre.“ (Hagelstange, 1998, 32) Es ist offensichtlich, dass dieser Ausbeutungsbegriff hochproblematisch ist. U.a. bleibt offen, wie die Ausbeutung qua Qualifikation bzw. qua Organisation vonstatten gehen soll und wie diese Ausbeutungsverhältnisse dauerhaft reproduziert werden können.

Diese Einwände sprechen jedoch dann nicht gegen eine pragmatische Verwendung des Modells, wenn man seinen theoretischen Anspruch tieferhängt und auf den ausbeutungstheoretischen Hintergrund verzichtet. (Vgl. Hagelstange, 1998, 35) Denn auch mit dieser Einschränkung bleibt das große Verdienst des Wrightschen Klassenstrukturmodells, dass es nicht nur empirisch überprüfbare Hypothesen über die Zugehörigkeit der Menschen zu Klassen ermöglicht, sondern auch zudem dazu in der Lage ist, relativ homogene soziale Positionen abzustecken und deren Relevanz für die Einstellungen der Menschen nachzuweisen.

Positionen oder Beziehungen?

Die Klassenstruktur ist jedoch nur ein Element einer Klassenanalyse. Weitere Elemente sind die Klassenformierung, der Klassenkampf und das Klassenbewusstsein. (Vgl. Wright, 1997, 2 ff.; Jung, 1973, 12 ff.) Die Spannbreite der marxistischen Klassenanalyse wird beispielhaft an der unterschiedlichen Stellung deutlich, die der Klassenstruktur innerhalb der Klassenanalyse einerseits von Wright und andererseits von Edward P. Thompson eingeräumt wird.

Für Wright stellt die Klassenstruktur “the ‘basic’ determinant” (Wright, 1985, 28) der anderen drei Elemente dar; und diese Klassenstruktur definiert er als „set of ‚locations’ filled by individuals“. (Wright, 1998, 275)

Demgegenüber ist für Thompson „der Klassenkampf sowohl der vorgängige als auch der universellere Begriff“. (Thompson, 1980, 267) Zur Begründung seiner Position führt er aus:

„Klassen existieren nicht als gesonderte Wesenheiten, die sich umblicken, eine Feindklasse finden und dann zu kämpfen beginnen. Im Gegenteil: Die Menschen finden sich in einer Gesellschaft, die in bestimmter Weise (wesentlich, aber nicht ausschließlich nach Produktionsverhältnissen) strukturiert ist, machen die Erfahrung, daß sie ausgebeutet werden (oder ihre Macht über diejenigen aufrechterhalten müssen, die sie ausbeuten), erkennen antagonistische Interessen, beginnen um diese Streitpunkte zu kämpfen, entdecken sich im Verlauf des Kampfes als Klassen und lernen diese Entdeckung allmählich als Klassenbewußtsein kennen. Klasse und Klassenbewußtsein sind immer die letzte, nicht die erste Stufe im realen historischen Prozeß.“ (Thompson, 1980, 267)

Für ihn ist „Klasse“ also nichts Statisches, weder eine starre Struktur noch eine statistische Kategorie, sondern etwas sehr Dynamisches. (Vgl. Thompson, 1987, 7) Nicht „Positionen“ – wie bei Wright –, sondern „Beziehungen“ prägen für ihn die Klassen.

„Reale“ Klassen

Bei allen Differenzen zu Thompson bemüht sich jedoch gerade Wright auch um den Nachweis der „realen“ Existenz von Klassen. Real in dem Sinne, dass sich Wirkungen der „theoretischen“ Klassen empirisch in den Lebensbedingungen und Einstellungen der Menschen wiederfinden.

Solange dieser Nachweis nicht gelingt, „ist Arbeiterklasse nicht mehr als eine Möglichkeit“ – so Jürgen Kocka in seiner historischen Studie Lohnarbeit und Klassenbildung. (Kocka, 1983, 25) Erst auf der Grundlage einer „gemeinsamen sozialen Identität“ fange die Arbeiterklasse an, „die Merkmale einer Gruppe zu entwickeln“. (Kocka, 1983, 26)

Kockas Argumentation ähnelt damit derjenigen von Marx, etwa in seiner bekannten Passage im 18. Brumaire des Louis Bonaparte zu den französischen Parzellenbauern: Dort führt er aus, dass es zur Bildung einer Klasse nicht ausreicht, wenn „Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern Klassen trennen“ (Marx, 1960b, 198), sondern es müssen „mannigfache Beziehung zueinander“, etwa in Form einer nationalen Verbindung und einer politischen Organisation, hinzutreten.

Für Marx gelten als Klassen im vollen Wortsinn also nur konkrete, sozio-kulturell integrierte und politisch organisierte Großgruppen. Seine Anforderungen an eine Klasse, die nicht nur gegenüber dem Kapital, sondern die „für sich selbst“ existiert (Vgl. Marx, 1964, 180), sind so umfangreich, dass man vermuten darf, dass solcherart definierte Klassen im Verlauf der Geschichte eher die Ausnahme als die Regel sind.

Milieu

Thompson ist auch ein wesentlicher Anreger für die Forschungsgruppe um Peter von Oertzen und Michael Vester gewesen, die mit ihrer Untersuchung „Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel“ (Vester/u.a., 2001) die populären These widerlegen, „daß sich die Großgruppen der früheren Klassengesellschaft durch den Wertwandel und die Individualisierung aufgelöst hätten“. (Vester/u.a., 2001, 11)

Ihre zentrale These lautet, dass es „nicht die Milieus [sind], die heute zerfallen. Die Klassenkulturen des Alltags sind vielmehr, gerade wegen ihrer Umstellungs- und Differenzierungsfähigkeit, außerordentlich stabil. Was erodiert, sind die Hegemonien bestimmter Parteien […] in den gesellschaftlichen Lagern.“ (Vester/u.a., 2001, 13)

Die sozialen Milieus wirken als „lebensweltliche Traditionslinien, die sich nach dem Stil und den Prinzipien ihrer alltäglichen Lebensführung unterscheiden […] fort.“ (Vester/u.a., 2001, 13) Allerdings haben sie sich, gleich „Familienstammbäumen“ (Vester/u.a., 2001, 13) nach oben, zu den jüngeren Generationen hin, differenziert und modernisiert.

Ihre Typologie der westdeutschen sozialen Milieus nimmt vieles von dem vorweg, dass in der aktuellen „Unterschicht“-Diskussion als vermeintlich neue Erkenntnisse zu Tage befördert wird. Etwa ihre Charakterisierung der „unterprivilegierten Milieus“, deren Lage in der Nachkriegsentwicklung teilweise deutlich stabilisiert worden ist, die jedoch bereits Ende der 1980er Jahre teilweise „in ihren alten Teufelskreis von geringer Qualifikation und geringen Aussichten, ihre Lage durch eigene Anstrengungen zu verbessern, zurückgekehrt [sind]“. (Vester/u.a., 2001, 42)

Fazit

Beck hatte sich bereits 1986 eine Hintertür offengelassen und darauf hingewiesen, dass die von ihm behauptete Aufhebung der Klassen an bestimmte Rahmenbedingungen gebunden sei. Für den Fall der Gefährdung dieser Rahmenbedingungen durch „sich radikal verschärfende Ungleichheiten“ (Beck, 1986, 134) hielt er „neuartige, jetzt aber gerade nicht mehr traditional zu verstehende, die erreichte Individualisierung voraussetzende ‚Klassenbildungsprozesse’“ (Beck, 1986, 134) für möglich.

Tatsächlich scheint diese Situation mittlerweile eingetreten zu sein. Allein: die Analyse dieser neuartigen Klassenbildungsprozesse ist noch nicht weit gekommen. Zwar haben Wright ebenso wie Vester u.a. auf ihrem je eigenen Weg nachgewiesen, dass weiterhin gesellschaftliche Großgruppen bestehen, die aus homogenen materiellen Lebenslagen gemeinsame „Klassenkulturen“ (Vester u.a.) bzw. klassenbezogenen Einstellungen (Wright) entwickeln und das Potenzial zu gemeinsamem politischen Handeln haben. Doch unser Verständnis von Klasse ist vermutlich noch zu sehr durch diejenige Form geprägt, die sie durch die kapitalistische Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts erfahren hat, um die Umbrüche der Sozialstruktur bereits in ihrem vollen Umfang erfassen zu können.

Die sich nicht nur umformende, sondern völlig neu formierende Arbeiterklasse wird sich grundlegend vom deutschen Industriearbeiterproletariat der 1960er Jahre unterscheiden, das vielen Sozialwissenschaftlern in der ein oder anderen Form als Vorbild ihrer Vorstellung auch der heutigen Arbeiterklasse dient. Die Arbeiterklasse des 21. Jahrhunderts wird weiblicher und internationaler sein, und sie wird ihre Zentren nicht allein in der Produktion, sondern ebenso sehr im Dienstleistungsbereich haben. Und wir müssen die Augen dafür öffnen, dass auch die Klassenbildung künftig ein sehr viel mehr politisch vermittelter Prozeß sein wird, als in der Vergangenheit. (Vgl. Deppe / Dörre, 1991)

Literatur:

Benschop, Albert/Krätke, Michael/Bader, Veit: Eine unbequeme Erbschaft. Klassenanalyse als Problem und als wissenschaftliches Arbeitsprogramm; in: Bader, Veit/u.a. (Hg.): Die Wiederentdeckung der Klassen, Berlin/Hamburg: Argument Verlag, 1998, S. 5-26

Bolte, Karl Martin/Kappe, Dieter/Neidhardt, Friedhelm: Soziale Schichtung, Opladen: Leske Verlag, 1966

Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: Piper, 1965

Deppe, Frank/Dörre, Klaus: Klassenbildung und Massenkultur im 20. Jahrhundert; in: Tenfelde, Klaus (Hg.): Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Klett-Cotta, 1991, S. 726-771

Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996 (2., neubearb. u. erw. Aufl.)

Giddens, Anthony: Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, Frankurt M.: Suhrkamp Verlag, 1979

Hagelstange, Thomas: Was nützt ein Klassenkonzept bei der Erklärung von Einkommens- und Bewußtseinsunterschieden in entwickelten Industriegesellschaften?; in: Bader, Veit/u.a. (Hg.): Die Wiederentdeckung der Klassen, Berlin/Hamburg: Argument Verlag, 1998, S. 27-54

Hradil, Stefan: Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft. Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus, Opladen: Leske + Budrich, 1987

Hradil, Stefan: Schicht, Schichtung und Mobilität; in: Korte, Hermann/Schäfers, Bernhard (Hg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen: Leske + Budrich, 1995 (3. Aufl.), S. 145-164

Hradil, Stefan: Soziale Milieus – eine praxisorientierte Forschungsperspektive; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 44-45/2006, 3-10

Institut für marxistische Studien und Forschungen (Hg.): Klassenstruktur der BRD 1950-1970, Frankfurt (Main): Verlag Marxistische Blätter, 1973 ff. (3 Bde.)

Jung, Heinz: Zu den klassentheoretischen Grundlagen einer sozialstatistischen Analyse der Klassen- und Sozialstruktur der BRD; in: Institut für marxistische Studien und Forschungen (Hg.): Klassenstruktur der BRD 1950-1970, Bd. 1, Frankfurt (Main): Verlag Marxistische Blätter, 1973, S. 11-226

Kocka, Jürgen: Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800-1875, Berlin (West)/Bonn: Dietz Verlag, 1983

Marx, Karl: Elend der Philosophie, in: MEW Bd. 4, Berlin (DDR): Dietz Verlag, 1964 (1847), S. 63-182

Marx, Karl: Klassenkämpfe in Frankreich, in: MEW Bd. 7, Berlin (DDR): Dietz Verlag, 1960a (1850), S. 9-107

Marx, Karl: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW Bd. 8, Berlin (DDR): Dietz Verlag, 1960b (1852), S. 111-207

Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, Berlin (DDR): Dietz Verlag, 1964 (1847), S. 459-493

Mauke, Michael: Die Klassentheorie von Marx und Engels, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, 1970

Rehberg, Karl-Siegbert: Die unsichtbare Klassengesellschaft; in: ders. (Hg.): Soziale Ungleichheit, Kulturelle Unterschiede, Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 2006, S. 19-38

Statistisches Bundesamt (Hg.): Datenreport 2004. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn: Eigenverlag, 2004

Thompson, Edward P.: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein Verlag, 1980

Thompson, Edward P.: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1987 (2 Bde.)

Vester, Michael/u.a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2001 (1993)

Wright, Erik Olin: Classes, London/New York: Verso, 1985

Wright, Erik Olin: The debate on classes, London/New York: Verso, 1989

Wright, Erik Olin: Class counts, Cambridge: Cambridge University Press, 1997

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