Die soziale Lage und das Bewusstsein von Lohnabhängigen

Die soziale Lage und das Bewusstsein von Lohnabhängigen

Erschienen in spw 147

Die Siegener Soziologin Sonja Weber-Menges hat 2004 eine vergleichende empirische Untersuchung zu Soziallagen, Lebenschancen und Einstellungen von Arbeitern und Angestellten in westdeutschen Industriebetrieben vorgelegt (Weber-Menges 2004). Diese materialreiche und informative Untersuchung soll Anlass sein, einen Blick auf einige vergleichbare Untersuchungen (Popitz u.a. 1957; Kern / Schumann 1970; Herding / Kirchlechner 1979; Kudera u.a. 1979; Herkommer u.a. 1979; Vester u.a. 2001) zu werfen und zwei Fragen nachzugehen:1

  • Leben und Arbeiten Arbeiter und einfache Angestellte am Anfang des 21. Jahrhunderts anders als in der „alten“ BRD oder gibt es Konstanten der Lohnabhängigkeit über die Jahrzehnte hinweg?
  • Besteht nach wie vor eine eigenständige Arbeiterschaft oder haben sich Arbeiter und Angestellte einander angenähert, sind vielleicht sogar miteinander verschmolzen?

“Arbeiterklasse” oder Arbeitnehmer?

Sonja Weber-Menges befragte in den Jahren 2000/01 Industriearbeiter und -angestellte in 17 westdeutschen Unternehmen. Sie interessierte vor allem, inwieweit sich die Arbeiter heute noch in einer typischen Weise von den Angestellten unterscheiden.

Im Ergebnis stellt Weber-Menges den Fortbestand einer „pluralisierten und differenzierten Arbeiterschicht bei größtenteils weiter existierenden schichtspezifischen Ungleichheiten zwischen Arbeitern und Angestellten unterschiedlicher Berufsschichten hinsichtlich der objektiven Soziallage, der Lebenschancen und Lebensstile“ (Weber-Menges 2004, 385) fest.

Sie ermittelte, dass die Berufsposition jeweils mit einem typischen Bildungsniveau und einem typischen Einkommen verknüpft waren. So war allen Arbeitergruppen und den einfachen (ausführenden) Angestellten gemeinsam, dass bei den Schulabschlüssen Volks- und Hauptschulabschlüsse überwogen, während der typische Schulabschluss der mittleren Angestellten die Mittlere Reife und der höheren/leitenden Angestellten das Abitur / die Fachhochschulreife war. Das durchschnittliche Bruttomonatseinkommen stieg in etwa mit der Höhe der Berufsposition an. Auffallend ist jedoch, dass das Einkommen der einfachen Angestellten zwar höher war als dasjenige der un- und angelernten Arbeiter jedoch niedriger als das Einkommen der Facharbeiter.

Ein weiteres interessantes Ergebnis ist die Selbsteinstufung einer deutlichen Mehrheit der Un- und Angelernten, Facharbeiter und Vorarbeiter als Mitglied der Arbeiterklasse/-schicht (demgegenüber sahen sich Meister, einfache und mittlere Angestellte als Teil der Mittelschicht). Aus der Vorstellungswelt der meisten Arbeiter war die Arbeiterklasse/-schicht also durchaus nicht verschwunden.

Der Anteil der politisch Aktiven korrelierte deutlich mit dem Beruf und dem Schulabschluss der Befragten. Arbeiter – und hier vor allem Un- und Angelernte – waren in der aktiven politischen Arbeit deutlich unterrepräsentiert.

Weber-Menges stellte bei den Berufseinstellungen fest, dass Arbeiter Pflicht- und Akzeptanzwerte stärker betonten als Selbstverwirklichung oder Eigenverantwortlichkeit. Zudem habe vor allem bei Un- und Angelernten sowie Facharbeitern ein Lohnarbeiterbewusstsein fortbestanden, „dessen Konturen nach wie vor durch die Interessenwidersprüche von Kapital und Arbeit, jedoch auch durch Interessengegensätze zwischen ihnen und den Vorgesetzten geprägt werden“. (Weber-Menges 2004, 272) Hingegen waren gute Verdienstmöglichkeiten und die Sicherheit des Arbeitsplatzes vor Arbeitslosigkeit nicht nur die am häufigsten genannten Anforderungen von Un- und Angelernten, Facharbeitern, Vorarbeitern sondern auch diejenige der einfachen Angestellten. Ein breites Mittelfeld von den Facharbeitern bis zu den mittleren Angestellten bildete sich bei der Zustimmung zu der Aussage „Meine Arbeit ist mir wichtig und macht mir Spaß.“ aus. Hiervon wichen u.a. die Un- und Angelernten ab, die die Aussage „Arbeit ist etwas, mit dem ich mein Geld verdiene und mehr nicht.“ favorisierten. (Vgl. Weber-Menges 2004, 262)

Überhaupt ist auffallend, dass sich die Antworten der Un- und Angelernten bei den meisten Fragen zur Berufseinstellung deutlich von den Antworten der anderen Berufsgruppen unterscheiden. Ausnahmen sind hier lediglich die Zustimmung aller Arbeiter zu den Tugenden Disziplin, Fleiß und Pflichterfüllung und die Zustimmung aller Arbeiter und der einfachen Angestellten zu der Aussage „Meine Arbeitsleistung wird in finanzieller Hinsicht und auch in anderer Hinsicht nicht richtig gewürdigt.“ (

Die Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten kommen v.a. bei der Bewertung von handwerklichem Geschick und körperlicher Kraft und Stärke zum tragen. Hier waren sich ausnahmsweise die Un- und Angelernten mit den Facharbeitern, Vorarbeitern und Meistern einig, während bei den Angestellten an keiner Stelle ein solcher Grundkonsens festzustellen ist.

Popitz u.a. führten ihre Erhebung zu Beginn der außerordentlichen ökonomischen Wachstumsphase durch, die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahren einsetzte und während der sich auch die Arbeitnehmer die Teilhabe am „Wirtschaftswunder“ erkämpfen konnten. Kern / Schumann haben ihre Daten in den Jahren 1965-67 erhoben, mithin vor den „Septemberstreiks“ 1969, die zu einer Wiederentdeckung der Arbeiterklasse geführt hatten. Auf diese Streiks konnten die Untersuchungen von Herding / Kirchlechner und von Kudera u.a. bereits reagieren.

Von 1972 bis 1975 stieg die Zahl der Arbeitslosen wieder kontinuierlich an und überschritt 1975 erstmals die Millionengrenze. Die letztere Befragung von Kudera u.a. wurde im Sommer 1974 durchgeführt, fand also bereits wieder in einer Übergangssituation statt, weil zu diesem Zeitpunkt der konjunkturelle Abschwung noch nicht erkennen ließ, „daß er das aus der Nachkriegszeit bekannte Maß wesentlich überschreiten würde.“ (Kudera / u.a. 1979, 350, Fußnote 2) Tatsächlich jedoch erfuhren die entwickelten kapitalistischen Länder Mitte der 1970er Jahre einen Wachstumseinbruch, der bis heute nicht überwunden ist. Es begann eine langfristige Stagnation mit steigender Arbeitslosigkeit. Die ersten Auswirkungen dieser Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit finden in der Untersuchung von Herkommer u.a. ihren Niederschlag.

Bereits von der sozial-liberalen Bundesregierung eingeleitet, setzten CDU/CSU und FDP nach 1982 konsequent auf neoliberale Wirtschaftskonzepte. Der mit dieser wirtschaftspolitischen Grundlinie verbundene Sozialabbau wurde von der rot-grünen Regierung nach 1998 fortgesetzt und bildet den Hintergrund der Untersuchungen von Vester u.a. und Weber-Menges.

Das Gesellschaftsbild des Arbeiters

Die klassische Studie legten Heinrich Popitz u.a. im Jahr 1957 vor. Sie untersuchten, wie Arbeiter eines Hüttenwerkes im Ruhrgebiet auf ihre Abhängigkeit von der wachsende Komplizierung der gesellschaftlichen Verhältnisse reagieren.

Ihr Ausgangspunkt war die Feststellung, dass Menschen gezwungen sind, sich Vorstellungen von gesellschaftlichen Wirkungszusammenhängen zu machen, die häufig über die eigenen unmittelbaren Erfahrungen hinausgehen. Es fehlt dann die Möglichkeit, „den Realitätsgehalt dieser Vorstellungen kontrollieren zu können“. (Popitz u.a. 1957, 1) Um diese Vorstellungen trotzdem in eine bestimmte Ordnung einfügen zu können, werde in der Regel ein Schema bereitliegen, das „ein mehr oder weniger differenziertes Gesamtbild zur Interpretation und Bewertung unserer gesellschaftlichen Erfahrungen“ (Popitz u.a. 1957, 8) bietet. Ein solches Vorstellungsschema nannten Popitz u.a. ein „Gesellschaftsbild“2.

Sie unterschieden sechs verschiedene Gesellschaftsbilder, und stellten fest:

„Alle Arbeiter, mit denen wir gesprochen haben und die überhaupt ein Gesellschaftsbild in dem von uns definierten Sinne entwickeln, sehen die Gesellschaft als – unabwendbare oder abwendbare, unüberbrückbare oder ‚partnerschaftlich’ zu vermittelnde – Dichotomie, und sie beantworten die Frage nach ihrem eigenen gesellschaftlichen Ort durch ein Arbeiterbewußtsein, das es ihnen ermöglicht, sich innerhalb der Gesamtgesellschaft als Teil der Arbeiterschaft zu verstehen.“ (Popitz u.a. 1957, 237, Herv. im Original)

Dieses Arbeiterbewusstsein enthielt zwei Elemente: So sahen die Hüttenarbeiter ihre Arbeit unter einem spezifischen Leistungsaspekt, selbst Hilfsarbeiter betonten die Fähigkeiten, die für ihre Tätigkeit erforderlich sind. In diesem berufsspezifischen Leistungsbewusstsein liegt eine trennende Tendenz. Wäre es allein oder überwiegend bestimmend, so würde es zur Auflösung des Zusammengehörigkeitsgefühls der Arbeiterschaft führen.

Dieses Leistungsbewusstsein wurde jedoch durch ein Kollektivbewusstsein ergänzt. Sein Kennzeichen ist die Einschätzung, dass „die Arbeiterschaft […] etwas zu bieten [hat], das dem Kapital – dem ‚toten Kapital’ – zumindest ebenbürtig, wenn nicht überlegen ist: die Arbeit – die ‚menschliche Arbeit’. Sie wird verstanden als körperliche Arbeit, das heißt diejenige menschliche Tätigkeit, die am sinnfälligsten ‚Arbeit’ ist, als produktive Arbeit, das heißt als unmittelbar wertschaffende Leistung.“ (Popitz u.a. 1957, 238, Herv. im Original)

„Das Leistungsbewußtsein kann sich […] nur dann geltend machen, wenn es durch ein Kollektivbewußtsein ergänzt wird: Das Selbstbewußtsein des Arbeiters als Arbeiter wird gesellschaftlich erst dann wirksam, wenn es ein Selbstverständnis als Teil der Arbeiterschaft impliziert.“ (Popitz u.a. 1957, 240, Herv. im Original)

Beide Momente (Leistungs- und Kollektivbewusstsein) waren wesentlich durch die Distanzierung der Arbeiter gegen die „Anderen“ (sowohl nach „außen“ – gegen die Angestellten, als auch nach „oben“ – gegen Unternehmer, Werksleitung, Kapital) bestimmt.

Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein

Horst Kern und Michael Schumann veröffentlichten ihre Studie „Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein“ 1970. Ihr Interesse richtete sich im wesentlichen auf die Veränderungen der Arbeitsprozesse in der Industrie und die Folgen dieses technischen Wandel für das Bewusstsein der Arbeiter.3

Entgegen der verbreiteten These, dass diesen Veränderungen eine pazifierende Wirkung zukommt, die Arbeiter also in das kapitalistische System integriert und „verbürgerlicht“ würden, zeigten sie in ihrer Untersuchung, „dass die Integrationsangebote der Gesellschaft im gesellschaftlichen und politischen Denken der Arbeiter nicht voll verfangen hatten“. (Kern / Schumann 1985, 9) Zwar konnten sie einerseits Tendenzen des Zurückdrängens des Kollektivbewusstseins feststellen, andererseits konnten sie jedoch „durchweg Bewußtseinssegmente antreffen, in denen die objektive Existenzunsicherheit der proletarischen Lebenssituation zum Ausdruck kam“. (Kern / Schumann 1985, 9 f.)

Der technische Wandel führte in der industriellen Produktion zu einer Differenzierung der Industriearbeit. Trotz der im Prinzip gleichen Arbeits- und Lebenssituation aller Arbeiter erkannten Kern und Schumann, dass „die Unterschiede in der Arbeit für die Bestimmung der Lebenssituation der Arbeiter und ihr gesellschaftliches Denken und Handeln tendenziell wichtiger [werden] als die für alle gleiche Stellung zu den Produktionsmitteln und deren Folgen“. (Kern / Schumann 1985, 22) Sie schlussfolgern:

„Der stattfindende Differenzierungsprozeß der Industriearbeit zwingt nach unserer Meinung dazu, die Arbeiterschaft nach dem Gesichtspunkt ihrer Arbeitssituation und ihres Erfahrungshorizonts in Teilkollektive aufzuspalten.“ (Kern / Schumann 1985, 34)

Andererseits stellten sie jedoch auch fest, dass den Arbeitern ein wichtiges Merkmal proletarischer Existenz erhalten bleibt:

„Auch die qualifizierteste Automationsarbeit ist trotz ihrer spezifischen Qualifikationsmerkmale keine Tätigkeit, die der der technischen Kader vergleichbar wäre. Nach einer längeren Einarbeitungszeit kann jeder durchschnittliche Arbeiter die gestellten Qualifikationsansprüche erfüllen. […] Dieser Umstand beläßt auch die Automationsarbeiter in einer Situation der Ersetzbarkeit.“ (Kern / Schumann 1985, 317)

Dass diese den Arbeitern noch bewusst war, zeigte sich an ihrer durchgängig pessimistischen Bewertung der Arbeitsplatzsicherheit.

Demgegenüber entzog die Automationsarbeit einem anderen wesentlichen Element des klassischen Arbeiterbewusstseins die Grundlage: dem „Leistungsbewußtsein, das sich auf die Körperlichkeit der Arbeitertätigkeit stützte“. (Kern / Schumann 1985, 319)

Für Kern und Schumann lag daher für einen qualifizierten Automationsarbeiter eine Verhaltensorientierung nahe, „Selbstbestätigung im wesentlichen außerhalb der Arbeit zu suchen und in der Arbeit nur das mehr oder minder angemessene Mittel zur Reproduktion und zur Befriedigung der Konsumentenwünsche zu sehen“. (Kern / Schumann 1985, 321)

Lohnarbeiterinteressen: Homogenität und Fraktionierung

Richard Herding und Berndt Kirchlechner gehen in ihrer Studie der Frage nach Veränderungen im Bewusstsein der gewerkschaftlich organisierte Industriearbeiter und -angestellte in Großbetrieben in den Jahren 1969 bis 1974 nach.

Sie stellten ein Bewusstsein davon fest, „daß es kollektiver Anstrengungen bedarf, um […] materielle Verbesserungen zu erreichen“ (Herding / Kirchlechner 1979, 291) und dass hier eine vordringliche Aufgabe der Gewerkschaften sei. Gleichzeitig war das Leistungsprinzip ungebrochen gültig: die Einkommen sollten sich nach Ansicht der Arbeiter und Angestellten ausdrücklich aufgrund individueller Anstrengung und beruflicher Qualifikation unterscheiden.

Kollektive und individuelle Strategien stellten für Industriearbeiter und -angestellte also keineswegs Widersprüche dar, sondern sie entschieden über ihre Anwendung aufgrund eines pragmatischen, situationsbezogenen Kalküls. Die Legitimation der Gewerkschaften – wie auch diejenige der Parteien und des Staates – sei von ihrem Erfolg und ihrem Nutzen für die Befragten abhängig gewesen. Hierin sahen Herding / Kirchlechner die These bestätigt, dass die traditionellen Einstellungsmuster der Lohnabhängigen „durch eher instrumentelle Orientierungen ersetzt werden“. (Herding / Kirchlechner 1979, 296)

Da die Definition der Interessen internen Fraktionierungen der Lohnarbeiter folgte, sahen sie keine „durchgängige Tendenz zur Vereinheitlichung der Lohnarbeiter“. (Herding / Kirchlechner 1979, 301) Zwar seien die alte Fraktionierungskriterien brüchig geworden, aber zugleich waren neue Differenzierungskriterien hervorgetreten. Und für das Verhalten der Lohnarbeiter sei „die Differenzierung ihrer Interessen nach Fraktionen konstitutiv“ (Herding / Kirchlechner 1979, 312) gewesen.

Gesellschaftliches und politisches Bewusstsein von Arbeitern

Werner Kudera u.a. interviewten 1974 Industriearbeiter aus zwei Großbetrieben in Nürnberg und Stuttgart und fragten nach Struktur und Beschaffenheit des gesellschaftlichen und politischen Bewusstseins von Arbeitern.

Als zentrales Ergebnis hoben sie hervor, „daß die Arbeits- und Lohnorientierung der Arbeiter durch einen ‚gebrochenen’ Instrumentalismus4 charakterisiert ist, der sich der inneren, aber widersprüchlichen Logik der Lohnarbeit verdankt“. (Kudera / u.a. 1979, 118)

So beurteilten die Arbeiter ihre soziale Lage durchweg illusionslos: Der Lebensstandard habe sich insgesamt verbessert; doch sei das erhöhte Einkommen in erster Linie aufgrund von Leistungssteigerungen, durch Überstunden und die Mitarbeit der Ehefrau zustande gekommen; die Lohnerhöhungen seien keineswegs automatisch erfolgten, sondern von den Gewerkschaften erkämpft; und bei kaum einem der befragten Arbeiter fehlte der Hinweis auf die ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

Von einer „zufriedenen Identifikation mit der eigenen Situation“ könne also nicht die Rede sein. Vielmehr müsse das, was herkömmlicherweise als Zufriedenheit interpretiert wurde, als „resignativer Ausdruck der Erfahrung und ‚realistische’ Einschätzung dessen, was es heißt, lohnabhängig zu sein“ (Kudera / u.a. 1979, 352) gewertet werden. Entgegen anderslautenden Auffassungen der damaligen Zeit belegt die Studie von Kudera u.a. „keine Integration in Form einer affirmativen Identifikation, sondern einzig ein pragmatisches Einverständnis mit dem vorgefundenen und mit eigenen Mitteln kaum für veränderbar gehaltenen gesellschaftlichen und politischen System“. (Kudera / u.a. 1979, 373)

Wie bereits Popitz u.a. stellten auch Kudera u.a. fest, dass sich „das Modell der Dichotomie […] allenthalben bemerkbar macht“. (Kudera / u.a. 1979, 353) Dies hatte seinen Grund in dem in der Regel sehr deutlich identifizierten Interessengegensatz zwischen Arbeitern und Unternehmern. Es sei dieser Interessengegensatz gewesen, „der die zentrale Perspektive für die Beurteilung gesellschaftlicher und politischer Sachverhalte abgibt“. (Kudera / u.a. 1979, 353)

Kudera u.a. stellten auch fest, dass „Vorstellungen, die über die Artikulation der eigenen aufgezwungenen Situation hinausgehen und den Aufbau der Gesellschaft insgesamt reflektieren, […] wenig präsent [sind]“. (Kudera / u.a. 1979, 353) Das System der Lohnarbeit sei im Bewusstsein so stark verankert, dass es, trotz aller Kritik im einzelnen, grundsätzlich nicht in Frage gestellt werde.

Gesellschaftsbewusstsein und Gewerkschaften

Die Studie von Sebastian Herkommer u.a. stützt sich auf Gruppendiskussionen mit Industriearbeitern und -angestellten aus der westdeutschen Großindustrie, die 1978 geführt worden sind.

Sie versucht die Frage zu klären, „wie die spezifische Form der gesellschaftlichen Arbeit die Lebensverhältnisse in der Arbeit, in der Konsumtion und in der Reproduktion der Arbeitskraft bestimmt“. (Herkommer u.a. 1979, 7) Ferner untersucht sie, „wie die Formen und Bedingungen der Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins vermittelt sind und wie sie sich durchsetzen“. (Herkommer u.a. 1979, 7 f.)

Obwohl sich die Lebensverhältnisse allgemein also verbessert haben, so Herkommer u.a., dominierte doch für die Masse der Lohnabhängigen die dem Produktionsprozess entspringende repressive Seite der Lohnarbeit. Nur für einen Teil der Lohnabhängigen würden immer wieder solche Arbeitsbedingungen vorhanden sein, in denen die Identifikation mit dem konkreten Arbeitsinhalt möglich ist. Doch selbst für diese Privilegierten unter den Lohnabhängigen gelte, dass die Arbeit doch immer auch das Mittel zum Leben bleibt und für den durchschnittlichen Lohnarbeiter nicht zum Selbstzweck werden kann.

Da die zivilisatorischen Seiten des Kapitalismus (Zunahme der arbeitsfreien Zeit, wachsende Einkommen, verbesserte Bildungsmöglichkeiten etc.) vor allem im Nichtarbeitsbereich zur Geltung kämen, erscheine Vielen die Nichtarbeit als eigentlicher Lebenszweck und demgegenüber die Arbeit nur als notwendiges Übel.

Das Selbstbewusstsein der Arbeiter speise sich aus dem Wissen, dass es ist ihre Arbeit ist, „die Reichtum schafft, den andere sich aneignen“. (Herkommer u.a. 1979, 54)

Doch selbst in dieser Phase der Kontinuität der Akkumulation trat – so ein Ergebnis dieser Untersuchung – die Sorge der Lohnabhängigen hervor, die persönlichen Verhältnisse könnten stagnieren oder sich sogar verschlechtern. Die Sicherheit des Arbeitsplatzes sei für die Lohnabhängigen die zentrale Frage gewesen, denn „in der absoluten Notwendigkeit, die Arbeitskraft als Ware verkaufen zu müssen, ist immer die Möglichkeit eingeschlossen, daß der Austausch von Arbeitskraft gegen Kapital oder Revenuen (Einkommen) zeitweise nicht gelingt. Damit ist die Sicherheit und Kontinuität der materiellen Existenzgrundlagen von Lohnabhängigen immer bedroht.“ (Herkommer u.a. 1979, 68)

Durch den erweiterten Spielraum des einzelnen Lohnarbeiters träten die Zufälligkeiten seiner Lebensbedingungen und die Abhängigkeit seiner Lebensproduktion von den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals jedoch zurück und verstärkte sich der Schein der Selbständigkeit.

„Es sind die Krisen, die diesem Schein der Selbständigkeit […] ein Ende machen.“ (Herkommer u.a. 1979, 191)

Die Verengung des Spielraums der Individualität durch die Wirtschaftskrise drängte die „Verschiebung im Alltagsbewußtsein“ (Herkommer u.a. 1979, 255) zurück. Es zeigte sich immer deutlicher, „daß das Individuum auch im Nichtarbeitsbereich Klassenindividuum ist“. (Herkommer u.a. 1979, 206) in diesen Veränderungsprozessen trat die Arbeit wieder als bestimmender und über alle Lebensbereiche übergreifender Faktor hervor und es wurde wieder stärker erkannt, dass die Position der Lohnabhängigkeit allen Abteilungen der Klasse gemeinsam ist.

Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel

Die von 1988 bis 1992 durchgeführte Untersuchung von Michael Vester u.a. ist im Unterschied zu den bisher vorgestellten eine repräsentative Befragung.

Überprüft werden sollte die populäre These, „daß sich die Großgruppen der früheren Klassengesellschaft durch den Wertwandel und die Individualisierung aufgelöst hätten“. (Vester u.a. 2001, 11) Als zentrales Ergebnis hielten Vester u.a. fest, dass die sozialen Milieus nicht zerfallen, sondern aufgrund ihrer Umstellungs- und Differenzierungsfähigkeit außerordentlich stabil seien. Sie wirkten als „lebensweltliche Traditionslinien, die sich nach dem Stil und den Prinzipien ihrer alltäglichen Lebensführung unterscheiden […] fort. Allerdings haben sich die ‚Familienstammbäume’ der sozialen Milieus differenziert und modernisiert.“ (Vester u.a. 2001, 13)

Die Klassengesellschaft habe sich zwar „enttraditionalisiert“ (Vester u.a. 2001, 72), aber auch die Zunahme qualifizierter Arbeit habe die betrieblichen Herrschaftsverhältnisse nicht verändert.

„Insgesamt bedeuten also Tertiarisierung, Wissensgesellschaft und Wertewandel keinen Epochenbruch, der die Herrschaftsverhältnisse ändert, sondern eine horizontale Differenzierung.“ (Vester u.a. 2001, 77)

In ihrer Typologie der westdeutschen sozialen Milieus unterteilten Vester u.a. den sozialen Raum auf einer vertikalen Achse, der Herrschaftsachse, in die drei Hauptmilieus: Die führenden gesellschaftlichen Milieus, die mittleren Volksmilieus und die unterprivilegierten Volksmilieus. Durch eine weitere, horizontale Differenzierung, die sie nach der Einstellung zur Autorität vornahmen, teilen sich diese Milieus weiter auf: So unterschieden sie bei den mittleren Volksmilieus nun die Traditionslinie der Facharbeiter und der praktischen Intelligenz von der ständisch-kleinbürgerlichen Traditionslinie. Diese beiden Milieus der ‚respektablen’ arbeitenden Klassen gründeten ihr Leben auf beständige und rechtschaffende Arbeit und Lebensführung, ihnen sei ein besonderer „Pflicht- und Leistungsethos“ (Vester u.a. 2001, 94) eigen.

Trotz dieser Gemeinsamkeit unterschieden sich die beiden großen Traditionslinie deutlich voneinander und seien zudem intern in weiterer Einzelmilieus gegliedert: die Traditionslinie der Facharbeiter etwa in ein traditionelles Arbeitermilieu, ein leistungsorientiertes Arbeitnehmermilieu und ein modernes Arbeitsnehmermilieu.

Das leistungsorientierte Arbeitnehmermilieu sei derzeit das größte westdeutsche Einzelmilieu. Die Mitglieder dieses Milieus erwarteten für Leistung und Verantwortung auch eine stärkere Teilhabe am Wohlstand. Ausdrücklich betont werde die Chancengleichheit aller Arbeitenden.

In der kleinbürgerlichen Traditionslinie beruhe die Respektabilität auf der pflichtbewussten Einordnung in Autoritätshierarchien, wobei insbesondere das kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu auf Sicherheit eingestellt sei.

Die Lage der unterprivilegierten Volksmilieus hätte durch die Nachkriegsentwicklung deutlich stabilisiert werden können. Mittlerweile seien Teile dieses Milieus jedoch „in ihren alten Teufelskreis von geringer Qualifikation und geringen Aussichten, ihre Lage durch eigene Anstrengungen zu verbessern, zurückgekehrt“. (Vester u.a. 2001, 42) Die durch sie verkörperten „Erfolge der Integrationsmechanismen der ‚Arbeitnehmergesellschaft’“ (Vester u.a. 2001, 525) seien heute durch neoliberale Deregulierungen wieder in Frage gestellt.

Doch die Folgen des Neoliberalismus seien nicht nur auf die unterprivilegierten Volksmilieus beschränkt – so Vester u.a. Im leistungsorientierten Arbeitnehmermilieu machten sie eine Untergruppe der „Geprellten“ aus, die den Ertrag ihrer Leistungen durch die Erfahrung der wirtschaftlichen Krise bedroht sehe und bitter beklage, „daß Leistungsgerechtigkeit nicht mehr gelte“. (Vester u.a. 2001, 41) Und auch im kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu sähen sich die meisten von der Modernisierung der Lebensstile und der Wirtschaft abgehängt und „in ihrer Pflichttreue enttäuscht“. (Vester u.a. 2001, 41)

Leben und Arbeiten Arbeiter und einfache Angestellte am Anfang des 21. Jahrhunderts anders als in der „alten“ BRD oder gibt es Konstanten der Lohnabhängigkeit über die Jahrzehnte hinweg?

Aus dieser Durchsicht soziologischer Untersuchungen aus sechs Jahrzehnten sind – mit dem eingangs gemachten Vorbehalt – tatsächlich einige Konstanten aber auch Veränderungen der Lebenslage und des Bewusstseins der Lohnabhängigen erkennbar:

Ihr Lebensstandard hat sich insgesamt zwar deutlich verbessert, trotzdem bleibt ihr finanzieller Spielraum eng. Offensichtlich ist auch die bestehende Unterprivilegierung auf dem Gebiet der Bildung und Ausbildung.

Die objektive Existenzunsicherheit ihrer Lebenssituation ist den Lohnabhängigen bewusst. Es ist daher nur folgerichtig, dass die Sicherheit des Arbeitsplatzes für sie die zentrale Frage ist.

Der Arbeitsalltag vieler Arbeiter wird nach wie vor durch die „objektiv geringen Identifikations- und Partizipationsmöglichkeiten im Bereich der materiellen Produktion“ (Deppe 1971, 112) geprägt. Gleiches lässt sich auch für die einfachen Angestellte sagen. So kann es nicht verwundern, dass eine große Zahl Lohnabhängiger keine positive Beziehung zum Inhalt ihrer beruflichen Tätigkeit hat. Vielmehr wird die Arbeit als Last und notwendiges Übel erfahren. Selbstbestätigung wird von Vielen daher außerhalb der Arbeit gesucht.

Charakteristisch für die Mehrheit der Lohnabhängigen sind ihre beschränkten Möglichkeiten der Beteiligung an relevanten politischen und ökonomischen Entscheidungen und ihr „pragmatisches Einverständnis“ (Kudera / u.a. 1979, 373) mit der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung.

Für das Bewusstsein vieler Lohnabhängiger ist ein Leistungsethos kennzeichnend, der gleichermaßen in Form eines berufsspezifischen Leistungsbewusstseins wie als Forderung nach Leistungsgerechtigkeit auftreten kann.

Unklar ist hingegen inwieweit die Vorstellung einer dichotomischen Struktur der Gesellschaft als Konstante gewertet werden kann. Popitz u.a. fanden sie bei allen Arbeitern, mit denen sie gesprochen haben und die überhaupt ein Gesellschaftsbild in dem von ihnen definierten Sinne entwickelt hatten. Auch Kudera u.a. bemerkten diese Vorstellung „allenthalben“ (Kudera / u.a. 1979, 353). Dem widersprechen Untersuchungsergebnisse von Weber-Menges: Bipolare Vorstellungen wurden von den von ihr befragten Arbeitern und Angestellten so gut wie nicht vertreten, sondern differenziertere Gesellschaftsvorstellungen geäußert.

Veränderungen hat es offenbar z.B. bei der Zufriedenheit mit der Würdigung der eigenen Arbeitsleistung gegeben. So gaben in den 1970er Jahren jeweils mehr als Zweidrittel der Arbeiter, Facharbeiter und Meister sowie der einfachen technischen Angestellten und immerhin noch 58 % der Ungelernten und 63 % der einfachen kaufmännischen Angestellten an, „alles in allem ihrer Leistung entsprechend bezahlt“ zu werden. (Vgl. Herding / Kirchlechner 1979, 83) Demgegenüber stimmten in der Erhebung von Weber-Menges der Aussage: „Meine Arbeitsleistung wird in finanzieller Hinsicht und auch in anderer Hinsicht nicht richtig gewürdigt.“ deutlich mehr als 70 % der Arbeiter und knapp 60 % der einfachen Angestellten zu.

Besteht nach wie vor eine eigenständige Arbeiterschaft oder haben sich Arbeiter und Angestellte einander angenähert, sind vielleicht sogar miteinander verschmolzen?

Wie bereits dargestellt, stellt Weber-Menges als zentrales Ergebnis ihrer Untersuchung den Fortbestand einer „pluralisierten und differenzierten Arbeiterschicht bei größtenteils weiter existierenden schichtspezifischen Ungleichheiten zwischen Arbeitern und Angestellten“ (Weber-Menges 2004, 385) fest. Für diese Interpretation sprechen tatsächlich eine Reihe von Untersuchungsergebnissen: so der besondere Stellenwert, den die Arbeiter handwerklichem Geschick und körperlicher Kraft beimessen, und ihre Betonung von Pflicht- und Akzeptanzwerten; vor allem aber besteht bei Un- und Angelernten sowie bei Facharbeitern ein Lohnarbeiterbewusstsein, das den Angestellten fremd ist.

Andererseits sind in einer Reihe von Untersuchungsfeldern nicht spezifische Ungleichheiten zwischen Arbeitern und Angestellten das dominante Muster, sondern fallen Ähnlichkeiten mehrerer Arbeitergruppen mit den einfachen Angestellten auf. Dies trifft u.a. für das Einkommen, die Arbeitsanforderungen und verschiedene Aspekte der beruflichen Grundhaltung zu. Tatsächlich erkennt auch Weber-Menges „deutliche Pluralisierungs- und Differenzierungsphänomene innerhalb der einzelnen Berufspositionen von Arbeitern und Angestellten“ und weitere „auffällige Differenzierungen“. Daher erscheint es ihr als nicht mehr sinnvoll, „von einer einheitlichen Arbeiterklasse bzw. -schicht im Gegensatz zur ‚Dienstleistungsschicht’ der Angestellten zu sprechen“. (Weber-Menges 2004, 119) Diese Feststellung ist zutreffend, widerspricht aber ihrem eigenen Gesamtergebnis von der Dominanz spezifischer Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten.

Dieses Gesamtergebnis steht auch in auffallendem Widerspruch zu den Ergebnissen der anderen Studien. Allein bei Popitz u.a. finden sich noch klare Abgrenzungen der Arbeiter gegenüber den Angestellten. Das Kollektivbewusstsein der Arbeiter funktioniert demnach geradezu über die Distanzierung der Arbeiter auch nach „außen“, hier gegenüber den Angestellten. Die anderen Untersuchungen stimmen hingegen darin überein, dass die Differenzierungen der Lohnabhängigen in Arbeiter, Angestellte und Beamte „die wirklichen Unterschiede in der Lebenslage nur sehr ungenau [fassen]“ (Herkommer u.a. 1979, 129) und „die meisten Arbeiter und Angestellte […] heute vergleichbare Erfahrungen in bezug auf ihre Situation als Lohnarbeiter [machen]“. (Herding / Kirchlechner 1979, 301)

Tatsächlich „stellt sich eine präzise Definition des Berufsstatus ‚Arbeiter’ nach einer Reihe von Angleichungen an Angestelltenpositionen als recht schwierig dar.“ (Weber-Menges 2004, 45)5 und hat sich die Grenze zwischen Arbeitern und Angestellten immer stärker verwischt.6

Wenn man trotzdem, etwa aus pragmatischen Gründen, an der Einteilung in Arbeiter und Angestellte festhält, dann sind jedoch zum einen die „überraschend starken Differenz zwischen Facharbeitern und Unqualifizierten“ (Herding / Kirchlechner 1979, 305) zu beachten; zum anderen, dass die Kategorie „Angestellter“ keine unter den wesentlichen soziologischen Gesichtspunkten homogene Gruppe definiert.

„Wiederkehr der Proletarität“?

Erleben wir also eine „Wiederkehr der Proletarität“ (Karl-Heinz Roth)? Die hier vorgestellten Untersuchungen geben auf diese Frage schon deshalb nur eine unzureichende Antwort, weil gerade die Personengruppen, die von dieser Reproletarisierung am stärksten betroffen sind – Ausländer/-innen, prekär Beschäftigte etc. – nicht zu den jeweiligen Untersuchungsgruppen gehört haben.

Für die hier untersuchten Industriearbeiter und -angestellten war die Einschätzung von Herkommer u.a. über die aufklärende Wirkung der wirtschaftlichen Krise und ihre Erwartung, dass vermehrte gewerkschaftliche Aktivitäten und eine Politisierung der Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeit und Kapital die Folge sein würden, zumindest verfrüht. Die Kernbelegschaften der Großindustrie – und damit der Kern der Gewerkschaftsmitglieder – konnten ihre soziale Stellung noch längere Jahre wahren. Der Hinweis von Vester u.a. auf die mittlerweile eingetretene Verunsicherung der mittleren Volksmilieus macht jedoch deutlich, dass es jetzt nicht mehr ‚nur’ die unterprivilegierten Volksmilieus sind, die die Folgen des ökonomischen „Erdrutsches“ (Eric Hobsbawm) Mitte der 1970er Jahre und der weltpolitischen Zäsur der Jahre 1989 bis 1991 zu spüren bekommen, sondern inzwischen auch der Kern der „Arbeitnehmergesellschaft“ betroffen ist. Dies schlägt sich z.B. in der von Weber-Menges dokumentierten Enttäuschung über die unzureichende Würdigung der eigenen Arbeitsleistung nieder. Vielleicht liegt hier auch eine Teil der Erklärung für die überraschende – vielleicht ein wenig trotzige – Selbsteinstufung einer deutlichen Mehrheit der Arbeiter als Teil einer Arbeiterklasse/-schicht.7

Doch wann schlagen Enttäuschung und Resignation in Protest und Widerstand um? Die Antwort auf diese Frage wird nicht allein eine akademische, sondern vielmehr ein praktische sein.

Literatur:

Deppe, Frank: Das Bewußtsein der Arbeiter. Studien zur politischen Soziologie des Arbeiterbewußtseins, Köln: Pahl-Rugenstein Verlag, 1971

Goldthorpe, John H. / u.a.: Der “wohlhabende” Arbeiter in England, München: Wilhelm Goldmann Verlag, 1970 f. [engl. 1968 f.]

Herding, Richard / Kirchlechner, Berndt: Lohnarbeiterinteressen: Homogenität und Fraktionierung. Eine empirische Untersuchung bei westdeutschen Arbeitern und Angestellten über soziale Ungleichheit und materielle Ansprüche, Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 1979

Herkommer, Sebastian / u.a.: Gesellschaftsbewußtsein und Gewerkschaften. Arbeitsbedingungen, Lebensverhältnisse, Bewußtseinsänderungen und gewerkschaftliche Strategie von 1945 bis 1979, Hamburg: VSA-Verlag, 1979

Institut für marxistische Studien und Forschungen (IMSF): Klassenstruktur der BRD 1950-1970 (3 Bde.), Frankfurt (Main): Verlag Marxistische Blätter, 1973 ff.

Kern, Horst / Schumann, Michael: Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1985 [1970]

Kudera, Werner / u.a.: Gesellschaftliches und politisches Bewußtsein von Arbeitern. Eine empirische Untersuchung, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, 1979

Popitz, Heinrich / u.a.: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1977 (5. Aufl.) [1957]

Vester, Michael / u.a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2001

Weber-Menges, Sonja: “Arbeiterklasse” oder Arbeitnehmer? Vergleichende empirische Untersuchung zu Soziallagen und Lebensstilen von Arbeitern und Angestellten in Industriebetrieben, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004

ErhebungszeitraumAutorTitelUntersuchungsgruppe und Methode
1953-1954Popitz, Heinrich / u.a.Das Gesellschaftsbild des Arbeiters600 Arbeiter eines Hüttenwerkes; leitfadengestützte Interviews
1965-1967Kern, Horst / Schumann, MichaelIndustriearbeit und Arbeiterbewußtsein981 Arbeiter in neun Industriebetrieben; Experteninterviews, Betriebsbesichtigungen; Arbeitsplatzbeobachtung; halbstandardisierte und Intensivinterviews
1971/1972Herding, Richard / Kirchlechner, BerndtLohnarbeiterinteressen: Homogenität oder Fraktionierung1.843 gewerkschaftlich organisierte, männliche Industriearbeiter in Großbetrieben mit mittlerer und höherer Qualifikation und männliche Angestellte in Verwaltungen der Industrie; standardisierte Fragebögen
1974Kudera, Werner / u.a.Gesellschaftliches und politisches Bewußtsein von Arbeitern183 verheiratete, männliche Industriearbeiter aus zwei Großbetrieben; qualitative Interviews
1978Herkommer, Sebastian / u.a.Gesellschaftsbewußtsein und Gewerkschaftenüber 100 Industriearbeiter und -angestellte aus der westdeutschen Großindustrie; außerdem Betriebsratsmitglieder und Vertrauensleute sowie je eine Gruppe von Industrielehrlingen und Frauen aus dem HBV-Bereich Gruppendiskussionen
1988-1992Vester, Michael / u.a.Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel244 biografische Zwei-Generationen-Interviews; 2.684 Repräsentativbefragungen (standardisierter Fragebogen)
2000-2001Weber-Menges, Sonja“Arbeiterklasse” oder Arbeitnehmer?1.868 Arbeiter und Angestellte in 17 Industriebetrieben; standardisierte Fragebögen

Alle Befragungen erfolgten in den alten Bundesländern (im Einzelfall auch in West-Berlin); ausländische Arbeitskräfte wurden ausgeklammert.

1 Dieses Vorhaben stößt allerdings nach wir vor auf das Problem, dass „das erkenntnisleitende Interesse der einzelnen Untersuchungen, ihr Gegenstand und ihre Methoden […] zu verschieden [sind], als daß die Ergebnisse unkritisch einander gegenübergestellt werden könnten.“ (Deppe 1971, 110) Und auch der von Kudera u.a. erhoffte Konsens über die relevanten Dimensionen und Variablen des Arbeiterbewusstseins ist auch nach zwei weiteren Jahrzehnten nicht erreicht. (Vgl. Kudera u.a. 1979, 13)

2 Zur Kritik an der Kategorie „Gesellschaftsbild“ vgl. Deppe 1971, 78.

3 Zur Kritik an dieser thematischen Beschränkung vgl. Kern / Schumann 1985, 12; hierzu auch: Deppe 1971, 51.

4 Zum Begriff des Instrumentalismus vgl. Goldthorpe u.a. 1970; hierzu auch: Deppe 1971, 83 ff.

5 Die statistische Erfassung der Arbeiter orientierte sich bis zum Oktober 2005 an ihrer Pflichtversicherung in der Arbeiterrentenversicherung und an der im Arbeitsvertrag festlegten Status als „Lohnempfänger“. Demgegenüber fußte die statistische Erfassung der Angestellten auf ihrer Beitragspflicht zur Angestelltenversicherung und ihrem Status als „Gehaltsempfänger“. Nach dem Zusammenschluss aller Rentenversicherungsträger zur Deutschen Rentenversicherung (am 01.10.2005) entfällt nun die Unterscheidung nach den verschiedenen Rentenversicherungsträgern, und in manchen Branchen sind auch die arbeitsvertraglichen Regelungen bereits vereinheitlicht.

6 Das IMSF sprach schon 1973, von einer „zunehmende[n] soziologische[n] Verschmelzung […] zwischen den unteren und mittleren Gruppen der Angestellten und der Arbeiterschaft“. (IMSF 1973, 272).

7 Dies unterscheidet sich auffallend von der Erhebung von Herding / Kirchlechner, derzufolge sich Anfang der 1970er Jahre nur 37 % der Ungelernten und 31 % der Arbeiter zur Arbeiterklasse / Unterschicht zählten. (Vgl. Herding / Kirchlechner 1979, 270)

Kommentare sind geschlossen.