„Deutschland ist ein reiches Land“

„Deutschland ist ein reiches Land“

Erschienen in spw 143

Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung

Im Dezember 2004 gelangte der Entwurf des zweiten Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung1 an die Öffentlichkeit. Mittlerweile ist er im Bundeskabinett beschlossen und wird in Kürze im Deutschen Bundestag debattiert werden. Damit ist die Bundesregierung dem Auftrag des Deutsche Bundestags nachgekommen, regelmäßig einen Armuts- und Reichtumsbericht zu erstatten und hat damit Skeptiker widerlegt, die glaubten, der im April 2001 erschienene erste Armuts- und Reichtumsbericht2 würde eine einmalige Angelegenheit bleiben.

Ende eines Traums: Es gibt wieder Arme und Reiche im Land
(FAZ vom 04.01.2005)

Armutszeugnis Reichtumsbericht
(ver.di Bundesvorstand im März 2005)

Es sind beträchtliche Anstrengungen unternommen worden, aber es hat nicht gereicht.
(Barbara Stolterfoth am 11.04.2005)

Der Bericht fand in der Öffentlichkeit naturgemäß eine widersprüchliche Aufnahme: Während die Bundevereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) die Einschätzung der Bundesregierung hervorhob, dass eine Neuorientierung sozialstaatlichen Handelns erforderlich sei3, sprach Barbara Stolterfoth, Vorsitzende des Paritätitschen Wohlfahrtsverbandes, von einem „erschreckenden Beleg für die soziale Zerrissenheit in Deutschland“ und erkannte eine „wachsende Dynamik der gesellschaftlichen Spaltung“4.

1.

Der Bericht gliedert sich in zwei Teile: eine Bestandsaufnahme und Analyse (Berichtsteil A) und eine Erläuterung der Maßnahmen der Bundesregierung (Berichtsteil B). Im Zentrum der Bestandsaufnahme steht der Zeitraum von 1998 bis 2002/2003; die Maßnahmen der Bundesregierung sind bis in das Jahr 2004 beschrieben.

Es ist zu begrüßen, dass nicht nur Einkommen und Vermögen thematisiert werden, sondern die Lebenslage in verschiedenen Bereichen (Bildung, Erwerbstätigkeit, Wohnraum und Gesundheit) sowie verschiedener Bevölkerungsgruppen (Familien und Kinder, behinderte Menschen, Migrantinnen und Migranten, Menschen in extremer Armut). Positiv ist auch, dass gegenüber dem ersten Bericht zwei zusätzliche Kapitel aufgenommen worden sind: Zum einen wird auf die Lebenssituation von besonders armutsgefährdeten und begrenzt selbsthilfefähigen Menschen im Sinne extremer Armut (z.B. wohnungslose Menschen, Suchtkranke, etc.) eingegangen; zum anderen thematisiert der Bericht die Möglichkeiten der gesellschaftlichen und politischen Partizipation.

Grundsätzlich ist jedoch zu beachten, dass die verschiedenen, dem Bericht zugrunde liegenden Erhebungen (Einkommensteuerstatistik, Sozio-ökonomischen Panel, Einkommens- und Verbrauchsstichprobe etc.), je spezifische Mängel haben. Die Aussagen des Berichts sind daher nur grobe Schätzungen und unterzeichnen in der Regel das Ausmaß sowohl der Armut als auch des Reichtums.5 Tatsächlich ist die soziale Ungleichheit in Deutschland größer, als der Bericht dies darstellt.

Ein schwerwiegender analytischer Mangel des ersten Armuts- und Reichtumsberichtes ist auch in diesem zweiten Bericht nicht behoben worden: Ursächliche Zusammenhänge zwischen dem Vorhandensein von Armen und Reichen in einer Gesellschaft werden weder benannt noch untersucht. Im Verständnis der Regierung scheint es einen solchen Zusammenhang nicht oder allenfalls in der Form zu geben, dass Reichtum eine Stimulanz für Fleiß und Wirtschaftswachstum sei und dadurch letztlich Alle vom Reichtum der Wenigen profitierten.

Armut

Der Bericht stellt zutreffend fest, dass sich der Begriff „Armut“ nach wie vor einer allgemeingültigen Definition entzieht und je nach Standpunkt und Forschungsinteresse unterschiedlich gefüllt werden kann. Die Aufgabe, Armut zu messen sei im streng wissenschaftlichen Sinn nicht lösbar.

Die Entscheidung der Bundesregierung, in diesem Bericht die zwischen den EU-Mitgliedstaaten vereinbarte Definition einer „Armutsrisikoquote“ zugrunde zu legen, ist durchaus plausibel. Diese Armutsrisikoquote ist definiert als Anteil der Personen in Haushalten, deren bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 60% des Mittelwerts (Median) aller Haushalte beträgt. In Deutschland beträgt die so errechnete Armutsrisikogrenze 938 Euro. Bezogen auf diesen Wert ist die Armutsrisikoquote von 12,1% in 1998 auf 13,5% in 2003 gestiegen.

Eine solche relative Definition bezieht Armut auf das Wohlstandsniveau der jeweiligen Gesellschaft. Hiervon unterscheidet sich das sozio-kulturelle Existenzminimum, das im Sozialhilferecht definiert ist. Im Rahmen der Sozialhilfereform wurden die Regelsätze neu festgelegt und umfassen mit wenigen Ausnahmen auch die bisherigen einmaligen Leistungen (z.B. Bekleidung, Hausrat). Der neue Regelsatz beträgt in den alten Ländern 345 Euro, in den neuen Ländern 331 Euro. Insgesamt bezogen in Deutschland zum Jahresende 2003 2,81 Mio. Personen Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen (HLU).6 Die Sozialhilfequote betrug damit 3,4%.

In der öffentlichen Debatte wird von jeher kontrovers bewertet, ob diese Sozialhilfequote ein Armutsindikator ist. Bereits die Kohl-Regierung verneinte dies. In seiner Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zur „Armut in der Bundesrepublik Deutschland“ stellte der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer 1995 fest: „Die Sozialhilfe bekämpft Armut, sie schafft sie nicht. Wer die ihm zustehenden Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nimmt, ist nicht mehr arm“.7 Zehn Jahre später klingt dies bei Rot-Grün genauso: „Die Inanspruchnahme von Sozialhilfe […] ist jedoch nicht mit Armut gleichzusetzen.“ (7 f.).

Demgegenüber weist u.a. der Paritätische Wohlfahrtsverband schon seit längerem darauf hin, dass die Regelsätze zu niedrig bemessen sind.8 Dem Anspruch, den Menschen nicht nur das zum Überleben notwendige zu gewähren, sondern sie darüber hinaus in die Lage zu versetzen auch am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft teilhaben zu können, werde die Sozialhilfe nicht mehr gerecht. Die Regelsatzbemessung erfolge offensichtlich nicht mehr nach objektiven Kriterien, sondern nach Kassenlage. Der Paritätische Wohlfahrtsverband sieht daher die Notwendigkeit, Arbeitslosengeld II, Sozialgeld und Sozialhilfe um mindestens 19 % zu erhöhen.

Hinzu kommt, „dass die Hilfebedürftigen durch die Angebote des Sozialstaates, insbesondere der Sozialhilfe, nur noch sehr eingeschränkt bzw. gar nicht mehr erreicht werden“ (65) – wie der Bericht selbstkritisch feststellt. Dies trifft z.B. auf Obdachlose oder Straßenkinder zu. Das quantitative Ausmaß dieser „verdeckten Armut” ist allerdings schwierig einzuschätzen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass auf drei Empfänger von HLU zwischen 1,5 und 2 weitere Berechtigte kommen.

Einkommensreichtum

Wie bei der Armut, so ist auch beim Reichtum bisher weder ein allgemein akzeptierter Begriff des Einkommensreichtums entwickelt worden noch besteht eine allgemeingültige Einkommensabgrenzung. Definiert man Einkommensreichtum analog zum Messkonzept der relativen Einkommensarmut dann könnte als einkommensreich gelten, wer über mehr das Doppelte des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens verfügt. Für das aktuell verfügbare Jahr 1998 ergibt sich eine Anzahl von 3,6 Mio. Personen, die demnach als Reiche angesehen werden könnten.

Alternativ gibt die Bundesregierung auch die Zahl der Millionäre und die obersten 1% der Einkommensverteilung an. Über der Grenze von einer Million Euro Nettoäquivalenzeinkommen lagen 1998 etwa 6.000 Personen. Die Grenze zu dem obersten 1% der Einkommensverteilung lag 1998 bei etwa 65.000 Euro; etwa 609.000 Personen verfügen über ein Nettoäquivalenzeinkommen, das darüber liegt. Dieses reichste 1% der Bevölkerung verfügte 1992 über 8,4% aller Einkommen, 1998 betrug der Anteil rund 10%.

Ungleiche Vermögensverteilung

Der Armuts- und Reichtumsbericht stellt fest, dass die Privatvermögen in Deutschland „sehr ungleichmäßig verteilt [sind]“. (35) Sie umfassen im engeren Sinne das verzinsliche Geldvermögen9 und die Verkehrswerte von Immobilien abzüglich Bau- und Konsumschulden. Diese Vermögen sind in den vergangenen Jahrzehnten stetig gestiegen und haben 2003 eine Summe von rund 5 Billionen Euro erreicht. Im Durchschnitt besitzt jeder Haushalt rund 133.000 Euro.

Während die unteren 50% der Haushalte nur über etwas weniger als 4% des gesamten Nettovermögens verfügen entfallen auf das oberste Zehntel knapp 47% des gesamten Nettovermögens. Dieser Anteil des obersten Zehntels ist gegenüber 1998 um gut zwei Prozentpunkte gestiegen.

Diese Ergebnisse beziehen sich allerdings nur auf das Privatvermögen in einem engeren Sinne. Langlebige Konsumgüter, Betriebsvermögen sowie Bargeld und Guthaben auf Girokonten sind darin grundsätzlich nichtenthalten. Diese Abgrenzung des Privatvermögens erlaubt also gar keine umfassenden Aussagen über die Vermögensverteilung im weiteren Sinne. Des Weiteren ist zu beachten, dass beim steuerlichen Gesamtvermögen privater und betrieblicher Grundbesitz erheblich unter dem Marktwert mit starren Einheitswerten angesetzt wird, Schulden dagegen voll abgezogen sind. Karl-Georg Zinn stellte deshalb bereits zum ersten Armuts- und Reichtumsbericht völlig zu Recht die Frage, “ob die Auslassung der Produktivkapitals in der Beschreibung der Vermögensverteilung, die aus technischen Gründen nicht erfassten sehr hohen Vermögen sowie die Ausblendung des Problems der Steuerhinterziehung nicht bedeuten, dass durch die damit bedingte Unterschätzung der Reichtumskonzentration nicht einer verharmlosenden Betrachtung Vorschub geleistet wird.”10 Dieser Einwand bleibt auch für den zweiten Bericht aktuell.

2.

Konnte die rot-grüne Bundesregierung beim ersten Armuts- und Reichtumsbericht noch darauf verweisen, dass für den Untersuchungszeitraum bis 1998 die Kohl-Regierung verantwortlich gewesen sei, muss sie beim zweiten Bericht Farbe bekennen, denn er bewertet die Erfolge und Misserfolge ihrer eigenen Politik. Und diese Bilanz ist ernüchtern: die Armutsrisikoquote ist gestiegen, die Streuung der Bruttoeinkommen aus unselbstständiger Arbeit hat zugenommen und das Vermögen der Privathaushalte ist extrem ungleich verteilt. Zudem hat die Arbeitslosigkeit neue Rekordmarken erreicht. Was also tun?

Die Bundesregierung wählt eine Doppelstrategie: Zum einen stellt sie in Frage, ob denn der Ausgleich ökonomischer Ungleichheiten überhaupt erstrebenswert sei, zum anderen spricht sich von aller Schuld frei und verweist stattdessen auf den Weltmarkt.

Teilhabe- und Verwirklichungschancen

Nach Ansicht der Bundesregierung ist eine „Neuorientierung sozialstaatlichen Handelns“ (XVIII) und ein „Paradigmenwechsel“ (XX) in der Sozialpolitik erforderlich. Früher habe sich das Sozialstaatsverständnis vorrangig darin manifestiert, durch den Ausbau sozialer Leistungen ökonomische Ungleichheiten auszugleichen und den materiellen Status zu sichern. Teilhabe- und Verwirklichungschancen11 entstünden jedoch nicht automatisch durch den Ausgleich ökonomischer Ungleichheiten. Verteilungspolitische Maßnahmen seien unter veränderten ökonomischen Bedingungen vielmehr nur noch begrenzt wirksam. Im im Dezember 2004 bekannt gewordenen Entwurf wurde sogar behauptet, eine Sicherung des sozialen und ökonomischen Status könne „kontraproduktiv wirken“, denn sie verhindere möglicherweise „die flexible Anpassung an die neuen Herausforderungen der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft“.12

Wen wundert es, dass diese Aussage den Applaus der BDA fand13, beim DGB hingegen auf Ablehnung traf?14 „Die Konzentration auf das Konzept der Teilhabegerechtigkeit vernachlässigt die Notwendigkeit von Verteilungsgerechtigkeit in Marktökonomien. Die materiellen Voraussetzungen […] von Teilhabe werden in diesem Ansatz in ihrer Bedeutung unterschätzt.“15 – so die Bewertung des DGBs. Folgerichtig fordert er die Bundesregierung auf, „das ursprüngliche Ziel der Armutsbekämpfung wieder in den Focus zu nehmen.“16

Wachstumsschwäche aufgrund externer Schocks

Natürlich ist die Einschätzung zutreffend, dass Arbeitslosigkeit die Hauptursache von Armut und sozialer Ausgrenzung ist, und dass die Schaffung von Arbeitsplätzen und der Integration Erwerbsloser in den Arbeitsmarkt eine vordringliche Aufgabe der Politik ist.17 Der Argumentation der Bundesregierung, die Wachstumsschwäche der vergangenen Jahre resultiere „vor allem aus zahlreichen externen Schocks“ und der „damit einhergehende[n] Schwäche der Weltwirtschaft“ (XVII) muss man jedoch mit Nachdruck widersprechen. Die Schwäche der deutschen Wirtschaft ist überwiegend hausgemacht – darauf hat z.B. Claus Schäfer vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) wiederholt hingewiesen.18 Er mahnt, eine Politik, die als Lösung aller Probleme ausgegeben werde, habe diese Probleme „erst erzeugt oder zumindest verschärft“19. Hierfür können die Steuer- und die Gesundheitsreform als Beispiele dienen.

Steuerreform: Den Reichen geben …

Die Bundesregierung nimmt für sich in Anspruch, das Steuersystem so reformiert zu haben, dass es das Armutsrisiko gesenkt hat und von ihm Impulse für neue Teilhabe- und Verwirklichungschancen ausgegangen sind. Als Argument werden v.a. die zwischen 1998 und 2005 erfolgte Senkung des Eingangssteuersatzes von 25,9% auf 15,0% und die Erhöhung des Grundfreibetrages genannt. Dies habe die unteren und mittleren Einkommen deutlich entlastet.

Die Steuerreform habe auch dafür gesorgt, dass auch wohlhabende Menschen ihren Beitrag dazu leisten, die staatlichen Finanzen zu konsolidieren und damit die finanzielle Grundlage für eine sozial gerechte Politik zu sichern. Die Absenkung des Einkommensteuer-Spitzensatzes auf 42% sei „kein Geschenk für die Reichen“ (XXIV), denn die gleichzeitig vorgenommene Verbreiterung der Bemessungsgrundlage beschneide gerade die Steuergestaltungsmöglichkeiten der besser Verdienenden und nehme ihnen in Verbindung mit der Beseitigung einer Vielzahl von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen, die Möglichkeit, sich durch Steuersparmodelle „arm“ zu rechnen.

Demgegenüber ist auf den Sachverhalt hinzuweisen, dass es sich bei den Steuersätzen um Grenzsteuersätze handelt. Von der Absenkung des Eingangssteuersatzes – wie auch von der Anhebung des steuerfreien Grundfreibetrags – profitieren also alle SteuerzahlerInnen, auch die einkommensstarken.20 Selbst dann, wenn die Bundesregierung den Spitzensteuersatz konstant gelassen hätte, wäre die absolute Entlastung bei den höheren Einkommen am größten gewesen. Weil sie zusätzlich auch den Spitzensteuersatz gesenkt hat, haben die höchsten Einkommen doppelt profitiert.

Diese abstrakten Überlegungen zu den Verteilungswirkungen der rot-grünen Steuerpolitik konkretisierten Claus Schäfer auf der Tagung des Forum Demokratische Linke 21 am 24.02.2005. Während der Durchschnittsverdiener mit einem zu versteuernden Einkommen von 30.000 Euro durch die Einkommensteuerreformen 1998-2005 um nominal 5,77 % bzw. 1.320 Euro entlastet worden ist, beträgt dieser Effekt für Steuerzahler mit einem zu versteuernden Einkommen von 1 Mio. Euro 22,07 % bzw. 106.000 Euro.

Die steuerpolitischen Weichen sind also falsch gestellt: einerseits sind den öffentlichen Haushalten Finanzmittel entzogen worden, die für arbeitsplatzschaffende Investitionen gebraucht würden, andererseits gehen von dieser Steuerpolitik die notwendigen Impulse für die Steigerung der Massenkaufkraft nicht aus. Angesichts dieser Bilanz hilft kein Verweis auf die Schwäche der Weltwirtschaft, um die Erfolglosigkeit der Bundesregierung bei der Verringern der Arbeitslosigkeit in Deutschland zu erklären.

… und den Armen nehmen: Gesundheitsreform

Ein Beispiel für viele, wie die rot-grüne Politik die Lebenslage vieler Menschen verschlechtert hat, ist die Gesundheitsreform. Die medizinische Versorgung einkommensschwacher Menschen hat sich nach Angaben der Nationalen Armutskonferenz durch diese Reform massiv verschlechtert.21 Seit der Einführung der Praxisgebühr Anfang 2004 sei die Zahl der Arztbesuche bei Personen mit einem Einkommen unter 1.000 Euro um 19 Prozent zurückgegangen, bei Bürgern mit einem Einkommen über 3.000 Euro aber nur um acht Prozent. Es ist offensichtlich, dass auch medizinisch notwendige Untersuchungen und Behandlungen unterbleiben und dadurch Erkrankungen verschleppt und wichtige Vorsorgeleistungen wie Impfungen nicht Anspruch genommen werden.

Die Folge eines solchen Verhaltens lässt sich schon heute in Jahre bemessen: Wer zum Fünftel der Bevölkerung mit dem niedrigsten Einkommen zählt, hat im Schnitt ein um sieben Jahre kürzeres Leben als ein Bundesbürger aus dem Fünftel mit dem höchsten Einkommen. Es ist zu erwarten, dass sich diese Unterschiede in Folge der rot-grünen Gesundheitsreform vergrößern werden. Es gilt also der Satz: „Weil du arm bist, musst du früher sterben.“

Literatur:

Bell, Hans Günter / Recht, Alexander, 2001: Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung; in: spw 4/2001, S. 26-31

Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung [BMAS] (Hrsg.), 2001: Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2 Bde.), Bonn

Bundesminister für Gesundheit, 1995: Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion betr. „Armut in der Bundesrepublik Deutschland“, Bundestags-Drucksache 13/3339 (13.12.1995)

Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände [BDA], 2005: Stellungnahme zum Entwurf des 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vom 07.01.2005 (unter: www.bda-online.de)

Deutscher Gewerkschaftsbund [DGB]: Lebenslagen in Deutschland – Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Erste Einschätzung des DGB; in: einblick 02/2005

Gilges, Konrad, 2001: Erster Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung im Frühjahr 2001; in: spw 1/2001, S. 47-48

Nationale Armutskonferenz, 2005: Pressemitteilung von 28.02.2005 (unter: www.nationale-armutskonferenz.de)

Paritätischer Wohlfahrtsverband, 2004: Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe um 19 Prozent zu niedrig; Pressemitteilung vom 20.12.2004 (unter: www.paritaet.org)

Paritätischer Wohlfahrtsverband, 2005: Erschreckendes Dokument sozialer Zerrissenheit – Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPWV) fordert rasche Konsequenzen aus Armutsbericht, Pressemitteilung vom 01.03.2005 (unter: www.paritaet.org)

Schäfer, Claus, 2004: Mehr soziale Ungleichheit – weniger ökonomischer Erfolg: Zur Verteilungsentwicklung in 2003 und den Vorjahren, in: WSI-Mitteilungen 11/2004, S. 583-595

Schäfer, Claus, 2005b: Die öffentliche Finanzpolitik gefährdet die gesellschaftliche Zukunft; in: spw 2/2005, S. 53-55

Stolterfoth, Barbara, 2004: Zum Leben zu wenig, Statement vom 20.12.2004 (unter: www.paritaet.org)

ver.di-Bundesvorstand (Hrsg.), 2005: Armutszeugnis Reichtumsbericht; in: Wirtschaftspolitische Informationen 2/2005

1 BMGS (Hrsg.), 2005. Der vollständige Bericht findet sich im Internet unter: http://www.bmgs.bund.de/deu/gra/publikationen/p_19.php. Die Zahlenangaben in Klammern beziehen sich jeweils auf die Seiten dieses Berichts.

2 BMAS (Hrsg.), 2001; vgl. Gilges, 2001; Bell / Recht, 2001.

3 Vgl. BDA, 2005.

4 Paritätischer Wohlfahrtsverband, 2005.

5 Im Bericht wird hierzu u.a. angemerkt, dass im unteren Einkommenssegment Personen ohne festen Wohnsitz nicht erreicht werden, und im oberen Einkommenssegment Gruppen mit besonders hohem Einkommen etwa in die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe entweder gar nicht einbezogen werden oder eine eingeschränkte Auskunftsbereitschaft insbesondere bei den Fragen nach Einkommen und Vermögen besteht. Vgl. BMGS (Hrsg.), 2005, S. 14.

6 Außerdem haben Ende 2003 rund 264.000 Personen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bezogen.

7 Bundesminister für Gesundheit, 1995, S. 1.

8 Vgl. Paritätischer Wohlfahrtsverband, 2004; Stolterfoth, 2004.

9 Hierzu zählen Spar- und Bausparguthaben, Wertpapiere, Termingeld und angesammeltes Kapital bei Lebensversicherungen.

10 Zinn, 2001, S. 24.

11 Die Bundesregierung bezieht sich auf das Konzept des Nobelpreisträgers Amartya Sen. Er versteht unter Teilhabe- und Verwirklichungschancen die Möglichkeiten der Menschen, „ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellt“. (9)

12 Dass der Bericht dennoch betont „dass sozialstaatliche Politik in Deutschland auch weiterhin Armut und soziale Ausgrenzung mittels materieller Leistungen verhindern und die Grundbedürfnisse der Menschen sichern wird“ (XIX), ist nur ein schwacher Trost.

13 Vgl. BDA, 2005, 3.

14 Vgl. DGB, 2005.

15 DGB, 2005.

16 DGB, 2005.

17 „Der Förderung der Erwerbstätigkeit kommt eine entscheidende Bedeutung bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu.“ (XXIII)

18 Vgl. Schäfer, 2004; Schäfer, 2005a; Schäfer, 2005b.

19 Schäfer, 2005b, 53.

20 Zudem profitieren natürlich nur diejenigen von solchen steuerpolitischen Maßnahmen, deren Einkommen nicht schon vorher unterhalb der jeweiligen Grundfreibeträge gelegen hat. An den ärmsten Bevölkerungsgruppen geht dieser Aspekt der Steuerpolitik wirkungslos vorbei.

21 Vgl. Nationale Armutskonferenz, 2005.

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